Bei Jork im Alten Land: An diesem Strand liegen die Trümmer des alten Hamburg
Traumstrand – bei diesem Wort haben wir sofort diese Bilder vor Augen: Sonne, blauer Himmel, Sand, so weit das Auge reicht, und Palmen, die sich im Wind wiegen. Dazu tosendes Meer mit hohen Wellen.
Daniel Nöslers Traumstrand sieht ganz anders aus. Das Wasser grau und wenig einladend. Überall unterm Schlick verbergen sich … Trümmer. Ja, so würden wohl die meisten von uns die Gesteinsbrocken und verrosteten Motorenteile, die alten Straßenlaternen und Porzellanscherben nennen, die dort am Ufer der Elbe millionenfach herumliegen. Doch Archäologe Daniel Nösler belehrt uns eines Besseren. Er spricht von Schätzen. Und er hat recht.
Unter den Füßen knirscht nicht nur Sand, auch Geschichte
Was kaum einer weiß: Zigtausende von Kriegstrümmern aus der zerstörten Stadt wurden nach 1945 am Rande der Elbe bei Jork versenkt – als Uferbefestigung. Und zur Freude von Wissenschaftlern und Schatzsuchern spült der Fluss langsam alles wieder frei. Ein Freilichtmuseum der ganz besonderen Art.
Verrostete Laternenmaste und alte Heizkörper
„Schauen Sie mal da“, sagt Daniel Nösler mit fast schon kindlicher Begeisterung, während wir an diesem Traumstrand spazieren gehen und unter unseren Füßen nicht nur Sand, sondern Geschichte knirscht. Dann zeigt der 45-jährige Archäologe mit seinem Finger auf einen Klumpen verrostetes Eisen. Die Rippen daran lassen noch gut erahnen, worum es sich handelt: um einen alten Heizkörper. Ob er mal eine Wohnung an der Taubenstraße wärmte, bevor die Häuser dort am 25. Juli 1943 im Bombenhagel in sich zusammenfielen? Der Anblick einer uralten, völlig verformten Flasche erinnert daran, in was für ein Inferno britische Bomber Hamm, Hammerbrook und Rothenburgsort während des „Feuersturms“ verwandelten. Glas schmilzt schließlich erst bei 1000 Grad Hitze! Schließlich finden wir Scherben eines Kaffeeservices. Dekor: Zwiebelmuster. Wer hat wohl mal von diesem Teller gegessen?
Spaziergänger fand 2011 einen Stein mit hebräischen Zeichen
Es war ein Spaziergänger, der im Frühjahr 2011 das Geheimnis des Strandes lüftete, als er durch Zufall auf zwei Steine mit hebräischen Schriftzeichen stieß. Er alarmierte die Behörden – und Daniel Nösler schaltete sich ein, auch damals schon Archäologe des Landkreises Stade.
Auf dem größeren der beiden Steine waren fünf Reihen mit Schriftzeichen gut zu erkennen. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um den unteren Teil eines Grabsteins handelte. Mithilfe des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte und des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden Hamburg ermittelte Nösler, woher er stammt: vom berühmten jüdischen Friedhof an der Königstraße in Altona. Der Stein stand einst auf dem Grab von Schimon ben Izek Gowe, der am 22. September 1745 dort beigesetzt wurde.
„Operation Gomorrha“: 40.000 Menschen kamen ums Leben
Und wie kam er an den Elbstrand bei Jork? „Na ja“, so Nösler, „da die Wohnhäuser rund um den Friedhof beim Bombenkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogen waren und die Trümmer den Randbereich des Friedhofs bedeckten, scheinen die Grabsteinfragmente nach dem Krieg zusammen mit dem Bombenschutt an die Elbe gelangt zu sein.“
„Operation Gomorrha“ – unter diesem Codenamen starteten Briten und US-Amerikaner in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 eine Serie von schweren Luftangriffen auf Hamburg. Zunächst traf es die westlichen Stadtteile Altona, Eimsbüttel und Hoheluft, die durch Flächenbrände verwüstet wurden. Am 27. Juli 1943 um 23.40 Uhr ertönte erneut Fliegeralarm. Die Einwohner der 1,5-Millionen-Stadt reagierten sofort und suchten die vermeintlich schützenden Keller und Bunker auf. Doch was die Menschen in der darauffolgenden Nacht erlebten, übertraf alles bis dahin Vorstellbare.
Flammenwalze war 1000 Grad heiß und erreichte Orkanstärke
739 britische Flugzeuge warfen mehr als 100 000 Spreng- und Brandbomben ab. Es traf die dicht besiedelten Arbeiterviertel Hohenfelde, Hamm, Billbrook, Borgfelde, Rothenburgsort, Hammerbrook und das östliche St. Georg. Mehr als 400 000 Menschen hielten sich zum Zeitpunkt des Großangriffs in diesem Gebiet auf, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Eine Fläche von 250 000 Quadratmetern stand bald darauf in Flammen.
Die immense Zerstörungskraft war geplant: Britische Experten hatten genau untersucht, wie Bomben ihre Wirkung auf besonders todbringende Weise zur Entfaltung bringen. Sprengbomben durchschlugen zuerst die Dächer, Wände und Mauern und machten den Brandbomben den Weg frei. Begünstigt durch wochenlange Hitze und Trockenheit vereinigten sich zehntausende kleiner Brände zu einem riesigen großen. In den schmalen Straßen wurde der Sauerstoff wie in einem gigantischen Kamin angesogen. Die Flammenwalze, in deren Zentrum eine Hitze von 1000 Grad herrschte, erreichte zeitweise Orkanstärke.
43 Millionen Kubikmeter Schutt mussten beseitigt werden
Die Bilanz der noch bis zum 3. August andauernden „Operation Gomorrha“: Um die 40 000 Tote – die genaue Zahl kennt keiner. 277 330 Wohnungen, 580 Industriebetriebe, 2632 gewerbliche Betriebe, 80 Anlagen der Wehrmacht, 24 Krankenhäuser, 277 Schulen und 58 Kirchen wurden zerstört. Als britische Truppen am 3. Mai 1945 in Hamburg einmarschierten, fanden sie Stadtteile und Bezirke vor, durch die sie mit ihren Jeeps viele Kilometer fahren konnten, ohne ein einziges intaktes Haus zu sehen.
Als die Hamburger sich nach dem Ende des Nazi-Regimes daran machten, die Stadt wieder aufzubauen, war es die erste Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. 43 Millionen Kubikmeter Schutt! Eine unvorstellbare Menge. Würde man all das in Waggons füllen, käme ein Güterzug dabei heraus, dessen Länge dem Umfang der Erde entspräche!
Stadtteil Hammerbrook wurde mehrere Meter erhöht
Was taten die Hamburger, um dieses Problem zu lösen? Sie waren erfinderisch. Ein Großteil wurde auf extra dafür konstruierte Trümmerbahnen verladen und zu verschiedenen „Ablagearealen“ gebracht: In der Innenstadt wurden damit beispielsweise Fleete verfüllt. Der komplette Stadtteil Hammerbrook wurde mit Trümmern um mehrere Meter erhöht. Eine künstliche Hügellandschaft entstand, die wir heute als Öjendorfer Park kennen. Schließlich wurde ein Teil des Schutts mit Binnenschiffen ins Hamburger Umland verfrachtet, wo damit Wege befestigt wurden.
Müllentsorgung und Küstenschutz in einem
„Und was dann noch übrig war, kippten sie hier in die Elbe“, so Archäologe Nösler. Das Deichvorland zwischen Hahnöfersand und Mojenhörn wurde auf mehr als sechs Kilometern Länge durch einen teilweise vier Meter hohen und mehr als 25 Meter breiten Wall aus Trümmerschutt befestigt. Sozusagen Müllentsorgung und Küstenschutz in einem.
Einmal stand sogar ein Vorkriegsauto am Strand
Und heute? Da gibt der Fluss, immer wenn Ebbe ist, Artefakte des Luftkriegs preis. Die Relikte des alten, 1943 untergegangenen Hamburgs bilden eine Art Mahnmal gegen den Krieg. Und zwar eins, das sich laufend verändert. Jeder Sturm fördert das Unterste zuoberst. Einmal tauchte sogar ein verrostetes Vorkriegsauto auf, erzählt Nösler.
Davon ist leider nichts mehr zu sehen, als wir am Strand spazieren gehen. Aber dafür stoßen wir auf Kachelscherben mit wunderschönen Motiven, auf Stuckornamente, Laternenmasten, auf Granitblöcke, die mal Teil einer Brücke waren. Und schließlich stolpern wir bei unserem Strandspaziergang fast noch, denn da liegt eine massive Stahltür im Schlick. Wie ein vergessenes Surfbrett.
Wie Sie unseren „Traumstrand“ finden? Geben Sie in Ihr Navi ein: Yachthafenstraße 6, 21635 Jork. Parken Sie beim Café Möwennest und dann schlagen Sie sich rechts vom Yachthafen durchs Gebüsch zum Wasser durch. Lohnt aber nur bei Niedrigwasser!