Hilfe für Jugendliche: Die Richterin mit dem großen Herzen
Jede Woche saßen ihr straffällige Jugendliche gegenüber. Bewaffnete Raubüberfälle, gefährliche Körperverletzungen, Einbrüche, Diebstähle – als Jugendrichterin hat Kathrin Sachse (47) schon vieles gesehen. So unterschiedlich ihre Herkunft, ihre Familiensituation, ihre Probleme waren. „All diesen Jugendlichen fehlte eine positive Begleitperson.“ Um das zu ändern, haben die Richterin und ihr Team den Mentoring-Verein „Zeit für Zukunft“ an der Bornstraße im Grindelviertel gegründet.
Sechs Jahre lang war Kathrin Sachse Jugendrichterin am Amtsgericht Harburg und vor allem für Wilhelmsburg und Kirchdorf-Süd zuständig. Es waren insbesondere die Fälle von „roher körperlicher Gewalt“, die sie berührten. Wenn Jugendliche ganz plötzlich ausrasteten und ihre Wut, ihren Frust an Wehrlosen ausließen. „In der Regel kamen die Jugendlichen alleine zur Gerichtsverhandlung.“ Weil sie das Strafverfahren aus Angst verheimlicht hatten oder weil sich ihre Eltern schlicht nicht dafür interessierten.
Hamburg: Am 29. Dezember 2011 änderte sich ihre Welt
Kathrin Sachse wollte etwas verändern. Sie suchte eine ehrenamtliche Aufgabe, als Ende 2011 zufällig ein Brief der Mentoring-Organisation „Big Brothers Big Sisters“ mit der Bitte um Spenden auf ihrem Tisch landete. „Das hat mich sofort gepackt.“ Die Richterin wollte Mentorin werden. In unzähligen Gerichtsverhandlungen hatte sie die Werdegänge der Jugendlichen verfolgt und gesehen, was ihnen fehlt. Jemand, der ihnen Aufmerksamkeit schenkt, der ihnen zuhört, der sie lobt und sich mit ihnen freut. Und der sie tröstet und ermutigt, wenn etwas schiefgelaufen ist und ihnen andere Möglichkeiten zeigt. „Ich bin überzeugt davon, dass es mit einer solchen Person an der Seite leichter ist, erwachsen zu werden.“
Kathrin Sachse erinnert sich noch genau. Es war der 29. Dezember 2011, der ihre Welt veränderte. An diesem Tag traf sie das erste Mal Ceren, ihr „Mentee“. Ein neunjähriges Mädchen mit türkischen Wurzeln, das die dritte Klasse besuchte. Mit einem Mitarbeiter der Mentoring-Organisation besuchte die Richterin das Kind zu Hause. „Ceren und ich waren beide sehr aufgeregt. Das ist ein bisschen wie ein Blind Date“, sagt sie lachend. Später flüsterte das Mädchen ihr zu, dass es in der Nacht nicht habe schlafen können vor lauter Aufregung. Diese „kostbaren, berührenden Momente“, in denen sich das Kind ihr anvertraute, gab es häufig in den folgenden Jahren. Die emotionalste Situation hatte Kathrin Sachse, als sie mit Ceren in der U-Bahn saß. Das Mädchen saß ihr gegenüber, schaute sie auf einmal an und sagte: „Ich weiß nicht, wo ich heute ohne dich wäre.“ Ein Satz, der Kathrin Sachse noch immer Tränen der Rührung in die Augen treibt. „Das trägt mich auch nach so vielen Jahren noch.“
Jeden Freitag um 15 Uhr stand die Mentorin vor der Tür von Ceren. Das Mädchen hatte sein Viertel noch nie verlassen, war noch nie Bahn gefahren, im Kino gewesen oder Schlittschuhlaufen. Cerens alleinerziehende Mutter war bedürftig, musste sich irgendwie selber in einem fremden Land zurechtfinden und konnte ihren beiden Kindern nicht viel ermöglichen. Doch sie wollte das Beste für ihr Kind und meldete es beim Mentoring-Programm an.
Steckbrief von Kathrin Sachse (47), Gründerin des Vereins „Zeit für Zukunft“
Bier oder Wein? Wein. Ich komme aus Düsseldorf, das ist eine Altbierstadt und es schmeckt furchtbar.
Auto oder Fahrrad? Weder noch. Ich bin viel zu Fuß und mit den Öffentlichen unterwegs.
Schnitzel oder Veggie-Burger? Eher Veggie-Burger. Ich esse sehr selten Fleisch.
Kind oder Haustier? Habe ich beides nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, noch mal ein Mentee zu begleiten. Also Kind.
Nordsee oder New York? Nordsee. Am Meer kann ich wunderbar entspannen. Da tanke ich auf.
Kiez-Club oder Elphi? Ich mag die Elphi wahnsinnig gerne und bin regelmäßig da.
Yoga oder Fitnessstudio? Yoga. Sehr entspannend. Das ist das, was ich nach meinen bunten Tagen brauche.
Heavy Metal oder Klassik? Wenn das die Auswahl ist, dann Klassik. Heavy Metal ist mir zu laut.
Hamburger Verein: 92 Kinder warten auf Mentoren
Ende 2013 musste der Verein „Big Brothers Big Sisters“ von einem auf den anderen Tag eingestellt werden, weil der Hauptsponsor abgesprungen war. Auf einmal standen 200 Patenschaften in Hamburg ohne Organisation da. Um das Projekt weiterzuführen, gründete Kathrin Sachse vor fast zehn Jahren gemeinsam mit anderen Mentoren „Zeit für Zukunft“. Heute hat der Verein 16 Vereinsmitglieder, die alle bereits Mentoring-Erfahrung haben, 130 ehrenamtliche Mentor:innen, die mit Kindern zwischen sechs und 18 Jahren ein sogenanntes Tandem bilden, und sechs hauptamtliche Mitarbeiterinnen. Darunter drei Mentoring-Beraterinnen, die neben der Begleitung der Kinder, Eltern und Ehrenamtlichen insbesondere dafür sorgen, dass nur geeignete Menschen Mentoren werden.
Wer sich für das Ehrenamt bewirbt, muss vorab ein Auswahlverfahren durchlaufen, bei dem der Interessierte auch zu Hause besucht wird und einen Einführungsworkshop macht. „Das klingt erst mal aufwendig. Aber man muss nicht besonders qualifiziert sein und braucht auch keine Erfahrung mit Kindern. Es geht darum, einmal die Woche oder alle zwei Wochen eine gute Zeit zusammen zu haben und im Idealfall ein großer Freund zu sein.“
Das könnte Sie auch interessieren: Wie ein Clubgründer mitten in Hamburg einen sozialen Mikrokosmos geschaffen hat
Kathrin Sachse und ihr Team sind dringend auf der Suche nach Engagierten, besonders Männern. Momentan warten 92 Kinder auf einen Weggefährten. Jemand, der sie an die Hand nimmt. Wie die Richterin es bei Ceren tat. Mittlerweile eine junge Frau, die mitten im Leben steht. Sie hat eine eigene Wohnung und steckt in der Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten. Kathrin Sachse ist stolz auf ihr Mentee. „Das gibt mir unglaublich viel zurück. Ich weiß genau, warum ich das mache.“
Wer sich für ein Ehrenamt als Mentor:in interessiert: Am 22.6. und 19.7. um 19 Uhr finden an der Bornstraße und zeitgleich digital Infoabende statt. Mehr Infos unter https://www.zeitfuerzukunft.org
Haspa finanziert die Wünsche von „Zeit für Zukunft“
Gutes verdient Unterstützung. Mit der Aktion „Die Bessermacher“ wollen wir nicht nur engagierte Menschen zeigen. Die Projekte bekommen auch finanzielle Hilfe und langfristige Unterstützung. „Zeit für Zukunft“ wünscht sich neue gefüllte Tandem-Taschen. Zum Start der Patenschaft bekommen Mentor:in und Mentee jeweils einen Baumwollbeutel mit kleinen Geschenken wie Brotdose, Trinkflasche und Spiel. Die Haspa kümmert sich um die Finanzierung mit Fördermitteln aus dem „Haspa LotterieSparen“. Zudem übernimmt die Filiale Volksdorf die Patenschaft für den Verein. „Es ist beeindruckend, welche Wirkung ehrenamtliches Engagement entwickeln kann, wenn es professionell gemanagt wird. Die Haspa und die Haspa Hamburg Stiftung unterstützen ‚Zeit für Zukunft‘ schon länger“, sagt Dirk Bartel von der Haspa Volksdorf. Wie es durch die Hilfe mit dem Projekt vorangegangen ist, erfahren Sie im Bessermacher-Recall. Die MOPO bleibt dran und berichtet!