Achidi John und der Tod durch Brechmittel
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Am 11. Juni 2006 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland, weil sie gegen genau dieses Folterverbot verstoßen hatte. Der Einsatz von Brechmitteln im Kampf gegen Drogendealer, so die Richter, sei unverhältnismäßig, sei unmenschlich und entwürdigend, ein Eingriff in die physische und psychische Unversehrtheit. Also: Folter.
Das Urteil aus Straßburg war eine schallende Ohrfeige für die deutsche Justiz und die politischen Entscheidungsträger und sorgte dafür, dass Hamburg damit aufhörte, Menschen zwangsweise zum Erbrechen zu bringen.
Für ihn kam das Urteil zu spät: Achidi John, der eigentlich Michael Nwabuisi hieß und dessen Tod sich in diesen Tagen zum 20. Mal jährt.
Es ist der 9. Dezember 2001. St. Georg. Danziger Straße. Drei Polizisten beobachten Michael Nwabuisi und sehen, dass der 22-jährige Nigerianer etwas Weißes im Mund hat – in Cellophan eingewickelte Drogen, vermuten die Fahnder. Als sich die Uniformierten nähern, passiert das, was viele Dealer tun, um Beweise verschwinden zu lassen: Der Verdächtige schluckt die Kügelchen herunter.
Damit beginnt das Drama: Um die Beweismittel zu sichern, wird der mutmaßliche Dealer in die Rechtsmedizin am UKE gebracht. Michael Nwabuisi wehrt sich heftig, schlägt um sich. Laut Ermittlungsakte haben ihn die Polizisten in den Untersuchungsraum getragen und auf den Boden gelegt. Als es ihnen nicht gelingt, ihn für den Brechmitteleinsatz auf den Rücken zu drehen, rufen sie Verstärkung. Die Besatzung eines weiteren Streifenwagens trifft ein.
Achidi John: Nigerianer stirbt in Hamburg bei Brechmitteleinsatz
Es kommt zu unglaublichen Szenen: Ein Beamter setzt sich auf das Becken des Liegenden, zwei drücken die Beine auf den Boden, der vierte hält die Fußfesseln, der fünfte presst sein Knie auf die rechte Schulter des Afrikaners und mit der Hand dessen Kopf gegen das andere Knie. „I will die“, brüllt der junge Mann, „ich werde sterben.“
Den Delinquenten „eingehend zu untersuchen“, wie es vor den umstrittenen Brechmitteleinsätzen Vorschrift ist, gelingt der Rechtsmedizinerin Professorin Ute L. (37) nicht, dazu wehrt sich der Mann viel zu heftig. An einen Abbruch der gewalttätigen Aktion denkt die Ärztin aber offenbar nicht.
Rechtsmedizinerin führt Magensonde bei Achidi John ein
Sie macht weiter: Zwei Mal versucht sie vergeblich, eine Magensonde durch die Nase des sich immer noch heftig Wehrenden einzuführen. Erst als ein Beamter den Kopf des Mannes so stark nach vorne drückt, dass das Kinn die Brust berührt, hat die Ärztin Erfolg. 50 Zentimeter tief schiebt sie die Sonde bis zum Magen und flößt das Brechmittel ein: 30 Milliliter eines Sirups der Ipecacuanha-Wurzel, verdünnt mit 800 Milliliter Wasser.
An Michael Nwabuisis Daunenjacke ist ein Ärmel zerrissen, von seiner bis zu den Kniekehlen heruntergezerrten Jeans ist ein Knopf abgesprungen. Der so Malträtierte zittert, schnaubt, prustet, röchelt, nässt sich ein – und rührt sich plötzlich nicht mehr. Ärztin Ute L. glaubt an Simulation und lässt ihn – immer noch gefesselt – auf dem Boden liegen. Man habe ihn „nicht stören wollen“, sagt sie später der Polizei.
Irgendwann fällt der Medizinstudentin Uta R. auf, dass etwas nicht stimmt. Sie fühlt keinen Puls mehr. Nun endlich werden Notärzte gerufen. 13 Minuten (!) dauert es innerhalb des UKE, bis sie da sind. Sie reanimieren den Patienten. Das Herz schlägt wieder. Doch Michaels Hirn ist zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst tot.
Noch 76 Stunden und 35 Minuten halten Anästhesisten die Körperfunktionen des jungen Mannes aufrecht. Am 12. Dezember 2001 um 14.23 Uhr werden die Geräte abgeschaltet.
Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, müssen wir uns die politischen Verhältnisse ab Anfang der 90er Jahre ansehen. Beherrschendes Thema in Hamburg ist die innere Sicherheit. Einbrüche, Straßenraub und Drogenhandel nehmen zu. Spektakuläre Fälle wie der Mord am 73-jährigen Lebensmittelhändler Willi Dabelstein, der im Juni 1998 von zwei Jugendlichen erstochen wird, erschüttern die Öffentlichkeit.
Hamburger Senat unter Druck: Drogen-Problem nicht im Griff
Von den Medien wird über das Thema Kriminalität mit zunehmender Aufmerksamkeit berichtet, sodass sich sogar Menschen in Stadtteilen, in denen es kaum Straftaten gibt, bedroht fühlen. Die Springer-Presse setzt Politik und Justiz unter Druck, fordert ein härteres Vorgehen – vor allem gegen die schwarzafrikanischen Dealer, die in St. Georg, aber auch in der Schanze unter freiem Himmel Koks und Crack handeln.
Die Drogen transportieren sie im Mund – und schlucken sie einfach runter, wenn sie erwischt werden. Ohne Beweise muss die Polizei sie wieder laufen lassen und am nächsten Tag stehen sie wieder da.
Bereits Anfang der 90er Jahre diskutieren Hamburger Drogenfahnder und Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, Dealern mithilfe eines Brechmittels das Handwerk zu legen. Die Expertenmeinung von Professor Klaus Püschel wird eingeholt, der damals schon Leiter der Rechtsmedizin ist. Er spricht sich 1991 unmissverständlich dagegen aus: „Es besteht beim Erbrechen eine nicht unerhebliche Gesundheitsgefährdung z. B. durch Verletzung der Speiseröhre oder Einatmung von Erbrochenem“, sagt er.
Hamburg Wahl: Ronald Schill treibt SPD vor sich her
Zehn Jahre später, im Herbst 2001, stehen Bürgerschaftswahlen an. Es sieht gar nicht gut aus für die Regierungskoalition aus SPD und GAL. Richter „Gnadenlos“ Ronald Schill inszeniert einen unglaublichen Medienrummel, wird zum Star dieses Wahlkampfs. Als Amtsrichter fällt der Rechtspopulist drakonische Urteile, verspricht als Wahlkämpfer, für seine neu gegründete „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ zusätzliche Polizisten einzustellen, hart gegen Straftäter vorzugehen und aufzuräumen in der Stadt. Das kommt bei manchen Wählern gut an.
In der Hoffnung, das Ruder herumreißen und den Machtverlust verhindern zu können, ernennt Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) in dieser Situation Olaf Scholz zum neuen Innensenator. Jahrelang hat sich die rot-grüne Koalition vehement gegen Brechmitteleinsätze ausgesprochen, hat immer wieder betont, wie überflüssig sie sind.
Nun aber gibt Scholz – gegen den Widerstand des Koalitionspartners GAL und vermutlich sogar gegen seine eigene Überzeugung – grünes Licht für diese Zwangsmaßnahme. Indem er die Dealer „kotzen“ lässt, will Scholz beweisen, dass der Staat durchgreift. Professor Püschel, eben noch ein entschiedener Gegner, hat plötzlich nichts mehr einzuwenden.
Scholz und Püschel: Grünes Licht für Brechmittel
Doch Scholz’ Rechnung, dass er, wenn er selbst den Law-and-Order-Mann mimt, Schill verhindern kann, geht nicht auf. Die SPD wird zwar bei der Wahl stärkste Fraktion in der Bürgerschaft, aber CDU, Schill und FDP erringen genug Sitze, um eine neue Regierung zu bilden.
Der neue Innensenator Ronald Schill hält nicht nur am Brechmitteleinsatz fest, er senkt sogar die rechtliche Schwelle für dessen Anwendung: Ein Tatverdächtiger muss nicht mehr einschlägig polizeibekannt sein, damit ein Staatsanwalt die Vergabe anordnen kann. Nur wenige Tage später stirbt Michael Nwabuisi. Beim 26. Brechmitteleinsatz in der Hansestadt.
Geboren und aufgewachsen ist er im Dorf Umuezeala Ndume, rund 450 Kilometer südöstlich der nigerianischen Millionenstadt Lagos, in einem Haus, das aus einem Wohn- und einem Schlafzimmer besteht und einer Küche ohne Dach, in deren Mitte ein Feuer lodert. Michaels Vater hat noch sechs weitere Kinder, lebt davon, dass er auf einem kleinen Acker Cassava-Knollen anbaut und an der Straße verkauft. Der Erlös reicht nicht, um alle Kinder zur Schule zu schicken.
Junge aus Lagos: Er ist die Hoffnung der Familie
Sohn Michael ist die große Hoffnung: Er soll die Familie aus der Armut befreien. Im Juli 2000 bricht er mit einem erschlichenen Visum nach Deutschland auf. Er befolgt, was ihm die Schlepper geraten haben: Er wirft seinen Pass weg und denkt sich einen neuen Namen und eine neue Nationalität aus. Als Achidi John, 18 Jahre alt, geboren in Kamerun, beantragt er in Jena Asyl.
Der Antrag wird abgelehnt. Aber den jungen Mann abzuschieben, ist nicht möglich – die Ausländerbehörde weiß ja nicht mal, aus welchem Land er kommt und wer Achidi John wirklich ist.
Er bekommt eine Duldung und ein Bett in einem Asylbewerberheim in der thüringischen Kleinstadt Ellrich. Von seinen Zimmergenossen erfährt er, wie sie ihr „Taschengeld“ aufbessern – und er fängt an, es genauso zu machen: Er wird Straßendealer in Hamburg, verkauft Crack und Kokain. Die Ware bekommt er von einem Nigerianer, der wiederum von einem albanischen Großdealer beliefert wird.
20 bis 30 Mark kassiert Michael für eine der kleinen Kugeln, die er in seinem Mund transportiert – mehr als die Hälfte muss er seinem Lieferanten zahlen. Der Verdienst reicht immerhin, um einen verrosteten VW Santana, einen Videorecorder und einen Teppich zu kaufen. Alles zusammen verschifft er in die Heimat. Danach hört die Familie länger nichts von ihm, bis sie im Dezember 2001 die Nachricht von seinem Tod erhält.
Der Tote hatte 41 Drogenkügelchen im Magen
41 Drogenkügelchen mit insgesamt fünf Gramm Crack haben die Rechtsmediziner aus Michaels Magen geholt. Dr. Frank Ulrich Montgomery, damals Präsident der Hamburger Ärztekammer und vehementer Kritiker der Brechmitteleinsätze, fragt bei Gericht nach, welche Strafe Michael Nwabuisi dafür zu erwarten gehabt hätte. Antwort: Arbeitsauflagen oder eine Jugendstrafe von etwa zehn Monaten auf Bewährung. Für Montgomery ist das der Beleg, wie unverhältnismäßig der Brechmitteleinsatz ist. Schroff fordert er: „Der Senat muss aufhören, Menschen mit Gewalt umzubringen.“
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Weil Ärzte Leben retten und nicht zerstören sollen, fordert Dr. Bernd Kalvelage, niedergelassener Internist in Hamburg, dass die Ärztekammer gegen jeden Mediziner standesrechtlich ermitteln solle, der sich an dem Brechmittel-Zwangseinsatz beteiligt, denn dabei handele es sich um eine „Todesstrafe durch die Hintertür“.
Der linke St. Pauli-Pastor Christian Arndt wirft den Brechmittelbefürwortern öffentlich vor, die Bevölkerung aufgeputscht und dumpfes, rassistisches Potenzial geweckt zu haben: „Jetzt will man die Schwarzen kotzen sehen.“
Pastor: „Jetzt will man die Schwarzen kotzen sehen“
Am UKE kommt es zu einem höchst ungewöhnlichen Aufstand der Ärzte: 57 von 98 Anästhesisten protestieren dagegen, dass Mediziner sich für so etwas hergeben. Bei einer Diskussionsrunde der Evangelischen Akademie greift das Publikum – vornehmlich Medizinstudenten – Klaus Püschel scharf an: „Sie sind das Brechmittel!“ Püschel bekennt sich als Institutsleiter zu seiner Verantwortung. Als er seine Haltung begründen möchte, wird er von Zwischenrufen übertönt: „Rassist!“
Strafrechtliche Konsequenzen hat der Tod von Michael Nwabuisi nicht. Die Obduktion, die in Berlin durchgeführt wird, kommt zu dem Ergebnis, dass er erstens selbst Kokain konsumierte und zweitens einen schweren Herzfehler hatte. In Verbindung mit dem Stress der Brechmittelvergabe hätten diese Faktoren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu seinem Tod geführt.
Die Staatsanwaltschaft stellt daraufhin die Ermittlungen ein – dabei wird möglicherweise auch der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass sie andernfalls gegen sich selbst hätte ermitteln müssen, denn sie war es ja, die den Brechmitteleinsatz befürwortet hatte.
Viele Bundesländer stellen Brechmitteleinsätze ein
Ein Klageerzwingungsverfahren, das die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke im Auftrag der Familie anstrengt, bleibt erfolglos.
Viele Bundesländer stellen nach Michael Nwabuisis Tod den Brechmitteleinsatz ein. Der Hamburger Senat unter Ole von Beust (CDU) aber macht weiter. Genauso Bremen, wo am 7. Januar 2005 ein weiterer Mensch ums Leben kommt: der Asylbewerber Laye-Alama Condé aus Sierra Leone. Anders als in Hamburg hat dieser Todesfall ein juristisches Nachspiel: Ein Strafverfahren gegen den Polizeiarzt wird 2013 nur unter der Auflage eingestellt, dass er 20.000 Euro an die Mutter des Opfers zahlt. Außerdem erstreitet Condés Mutter vom Land Bremen ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro. Sogar Bürgermeister Henning Scherf (SPD) wird vor Gericht zitiert und erhält eine Ordnungsstrafe, weil er nicht rechtzeitig erscheint.
Von 2001 bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird in Hamburg insgesamt 530 Personen Brechmittel verabreicht. Auffällig: 90 Prozent sind Schwarzafrikaner. Skandalös: Bei einem Drittel der Personen werden im Erbrochenen gar keine Drogen gefunden.
Hamburg: 530 Brechmitteleinsätze bis zum Verbot
Auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird weiter Brechmittel eingesetzt – allerdings nur noch auf freiwilliger Basis. Erst im Juli 2021 ist damit endgültig Schluss. Als Alternative gilt jetzt die natürliche Ausscheidung von Drogen, die entsprechend überwacht wird, heißt es in einer Mitteilung der Justizbehörde.
Inzwischen ist Olaf Scholz Bundeskanzler. Wir haben ihn Anfang der Woche – noch bevor er zum Regierungschef gewählt wurde – um eine Stellungnahme zum Fall Michael Nwabuisi gebeten. Gerne hätten wir von ihm gehört, ob er es heute bedauert, dass er 2001 eine Entscheidung getroffen hat, die einen Menschen das Leben kostete. Eine Antwort haben wir nicht erhalten.
Was sagt Olaf Scholz heute zu seiner Entscheidung?
Mit dem mittlerweile pensionierten Rechtsmediziner Klaus Püschel hat die MOPO erst kürzlich über das Thema gesprochen: und zwar anlässlich eines Krimifestivals auf Kampnagel, bei dem der nun als Autor tätige Püschel aus seinem neuesten Buch vorgelesen hat. Das musste unter Polizeischutz geschehen, weil sich wenige Tage vor der Veranstaltung Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard von Püschels Auftritt distanzierte. Erst jetzt habe sie erfahren, dass Püschel beteiligt gewesen sei am Brechmitteleinsatz und sie fügte hinzu, ihr Haus zeige „als Institution eine klare Haltung gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung“.
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Er bedaure den Tod Michael Nwabuisis, so Püschel gegenüber der MOPO, aber er habe „damals das getan, was die Innenbehörde unter dem SPD-Senator Olaf Scholz und die Wissenschaftsbehörde unter der Grünen-Senatorin Krista Sager angeordnet hatten. Das war Innenpolitik der Stadt Hamburg, die ich umzusetzen hatte.“ Püschel zum Rassismus-Vorwurf: „In bin in vielen Ländern gewesen – im arabischen Raum wie in Afrika –, um Menschen zu helfen. Wenn irgendjemand kein Rassist ist, dann bin ich das.“