„Blödsinn“: Deshalb werden Ungeimpfte nicht stigmatisiert
Das Schlagwort „Corona-Maßnahmen“ reicht, damit bei einigen Deutschen der Puls hoch geht. Vor allem die Impfung gegen das Coronavirus ist Thema Nummer eins auf den bundesweiten Demonstrationen. Werden Ungeimpfte wirklich stigmatisiert? „Blödsinn“, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma.
Reemtsma (69), Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, ist sich sicher: Die Demonstranten auf den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen vereint die Aufregung, der alles andere untergeordnet ist. Das Aufgeregtsein sei das, was von den Menschen angestrebt werde. Der Auslöser dessen sei, dass „der Begriff von Normalität erschüttert ist, also ihr soziales Vertrauen“, sagt der Sozialwissenschaftler im Interview mit der „Zeit“.
Hamburg: Wissenschaftler sieht Aufregung als wichtiges Element von Corona-Demos
Diese Aufregung sei auch das Bindeglied zwischen den sehr unterschiedlichen Demonstranten. Wer sich einmal eine Corona-Demo angeschaut hat, weiß, hier kommen Hippies, Familien, Esoteriker und Rechtsradikale zusammen.„Bestimmte Erregungszustände vereinheitlichen die Mentalitäten: Die Menschen werden sich ganz schnell unheimlich ähnlich, sie reden dasselbe, sie reden auf dieselbe Weise, sie schreiben dieselben Sätze und so weiter. Aufgeregte, gar wütende Leute beginnen einander zu ähneln,“ fasst Reemtsma das Phänomen zusammen.
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Ungeimpfte und ihre Verteidiger ereifern sich immer wieder darüber, dass die Corona-Impfungen keine Sicherheitsmaßnahme seien, sondern letztendlich eine Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe. „Blödsinn“, nennt der Wissenschaftler diesen Vorwurf. „Wenn mir jemand sagt, dass er sich wegen einer Impfkontrolle stigmatisiert fühlt, dann will ich ihm gar nicht absprechen, dass er das in dem Augenblick wirklich meint, das heißt, dass er sich in ein Gefühl hineintheatert hat und dieses Theater, das er selber veranstaltet, für die Wirklichkeit hält.“
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Dass die Corona-Leugner und „Querdenker“ eine Macht über die Pandemie hinaus entwickeln, also zu einem bestimmenden Element unserer Gesellschaft werden, hält Reemtsma für unwahrscheinlich. Sobald Corona nicht mehr das Hauptthema sei, würden die Parolen im Nichts verhallen. „Wird es kleine Gruppen geben, die das weiterpflegen? Dazu, glaube ich, fehlt dann doch ein mentales Bindemittel, das über die bloße Liebe zur Aufgeregtheit hinausgeht, etwa eine Ideologie“, so der Sozialwissenschaftler. (vd)