Coronavirus in Hamburg: Darum ist diese Krise auch eine Chance!
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Das Corona-Virus greift nicht nur unser Immunsystem an. Es infiziert unsere Köpfe mit einem anderen Symptom, das heftige Auswirkungen zeigt: Angst. Die sozialen Netzwerke sind voll davon.
Glaubt man der Masse der Statusmeldungen, haben viele allerdings weniger Angst davor, sich mit dem Virus anzustecken, als um ihre wirtschaftliche Existenz. Schließlich trifft es ja angeblich „nur“ die Alten und Erkrankten, liest man siegessicher von Kommentatoren, wenn sie die Sicherheitsvorkehrungen für übertrieben und als Angriff auf ihren Wohlstand sehen.
Gesellschaft fürchtet Verlust von Geld, Arbeit, Wohnung und Status
Das allerdings bedient einen mittlerweile fast schon als gesetzt geltenden Mechanismus, nämlich die Reduzierung der Existenz auf den ökonomischen Status. Es zeigt die ganze Tragik einer Gesellschaft, die im Angesicht einer weltweit grassierenden Seuche nicht den Verlust der tatsächlichen Existenz, also des Lebens, fürchtet, sondern den Verlust von Geld, Arbeit, Wohnung und vor allem Status. Es zeigt das ganze Ausmaß einer pervertierten Gesellschaft, in der das Sein in Haben gemessen wird.
Oder am Spaßbarometer – so wird in der Berliner Partyszene derweil an Strategien getüftelt, mit denen sich Gäste heimlich in die Clubs schleusen lassen. Die Wohlstandsverblödung nimmt so asoziale Züge an, dass die außerordentliche Situation ignoriert und das Risiko der schnellen Verbreitung und Ansteckung mit dem Virus tanzend und saufend in Kauf genommen wird.
Wir haben uns ein Gefängnis aus Angst gebaut
Es scheint, die Angst, die sich hier Bahn bricht, entspringt nicht nur dem Augenblick. Sie ist schon sehr alt und rottet schon so lange auf dem Grund unserer Gesellschaft vor sich hin, dass sie jetzt in stinkenden Blasen nach oben steigt. Diese Angst davor, den Anschluss zu verpassen, nicht mehr leistungsfähig zu sein, die Miete nicht mehr zahlen zu können oder die Krankenkasse.
So ist im Laufe der Jahrzehnte mit jeder Angst vor dem Verlust von etwas ein Gitterstab hinzugekommen. So haben wir uns ein Gefängnis aus Angst gebaut, in das wir uns selbst eingesperrt haben.
Das hat etwas mit uns gemacht: Angst essen nicht nur Seele auf, sondern auch Verstand und Empathie. Denn die Wahrheit ist: Die Menschen haben in den letzten Jahrzehnten nichts dagegen unternommen und sind still auf ihren Plätzen geblieben. Sie haben das System bedient und die wahren existenziellen Bedürfnisse in eine pervertierte Lebensform gepresst. Im ständigen Wettlauf gegen die Zeit dem „idealen“ Leben hinterherhetzend, ohne zu merken, dass Konsum und Materialismus den Abstand zum Ziel nur vergrößern.
Tunnelblick auf ständige Vermehrung von Besitztum
Dieser Tunnelblick auf die ständige Vermehrung von Besitztum verbannt unsere Kinder aus unserem Sichtfeld, lässt uns die Liebe aus den Augen verlieren, sodass Liebesromanzen zu praktischen Zweckbeziehungen und Kinder uns zur Last werden. Denn die Arbeit und die Aufrechterhaltung des schönen Scheins frisst so viel Energie, dass für den Rest nicht mehr viel übrig bleibt. Und die nachfolgenden Generationen denken, dass das Leben eben so ist. Und so nehmen wir, während wir uns auf dem Rückweg vom Achtsamkeits-Yoga aggressiv durch den Verkehr hupen, vom mit feinem Leder gepolsterten Innenraum von der Welt um uns herum getrennt, die Schönheit unserer Stadt, die wir in rührseligen Momenten als unsere Perle besingen, überhaupt nicht mehr wahr.
Pandemie schenkt uns etwas sehr Wertvolles: Zeit
Jetzt allerdings haben wir die Gelegenheit, genau das endlich wieder zu spüren. Die Pandemie kann uns nämlich außer unserer Gesundheit nichts wirklich Wertvolles wegnehmen, aber sie schenkt uns etwas sehr Wertvolles: Zeit.
Jetzt, wo die meisten Menschen nicht mehr durch Arbeit oder Konsum – die Läden sind ja geschlossen – abgelenkt werden, können wir endlich all das tun, was wir uns schon so lange vorgenommen haben oder wonach wir uns sehnen. Jetzt ist sie endlich da, die Zeit für Ruhe und Entschleunigung. Bis es so weit war, hat es eine Weile gedauert und es braucht offensichtlich diese Klatsche.
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Die vielen Schüsse vor den Bug haben wir überhört, obwohl die Salven in immer kürzeren Abständen einschlugen. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir Schindluder mit der Natur und der Wirtschaft treiben. Dass wir unser Bestreben, gute Menschen zu sein, einzig auf unser Erscheinungsbild reduzieren und nicht auf das tatsächliche Handeln. Und wenn wir handeln, dann ist das so ziellos wie das politisch korrekte Abmarschieren von angemeldeten Demonstrationsrouten. Weil wir leidenschaftlicher konsumieren als demonstrieren und unser Alltag bestimmt wird von Dingen und Zeug, deren Herstellung in anderen Ländern Leid und Umweltverschmutzung verursacht.
Wir sind für eine solche Krise nicht gewappnet
Und wir? Wir hören einfach nicht auf. Haben die Zerstörung outgesourct. Aber sie ist genauso da, wie der Mond am Himmel hängt, auch wenn wir ihn bei Tageslicht nicht sehen können. Jetzt formt sie eine weltweite Welle, so kraftvoll, dass sie bis nach Deutschland schwappt und über unseren Köpfen bricht. Auch wenn das Virus nicht unmittelbar mit dem Wahnsinn unseres Alltags zu tun hat, spüren wir jetzt zumindest, dass wir für eine solche Krise nicht gewappnet sind.
Es ist wie eine dieser Geschichten von einem Workaholic, der erst nach einem knapp überlebten Herzinfarkt verstanden hat, dass das Sein endlich ist und sich für den Status seines Trägers nicht interessiert.
Wir brauchen Nahrung und Obdach, Schutz und Sicherheit. Aber was uns wirklich nährt, das, was wir manchmal als Glück empfinden, das ist etwas ganz anderes. Was das ist, das können wir jetzt herausfinden.
Zeit für unsere Kinder, Eltern und Freunde
Es ist vielleicht die einzige Zeit in unserem Leben, die wir in völliger Ruhe mit unseren Kindern verbringen können. Von nichts abgelenkt, nicht mal vom Urlaub, in dem wir uns so sehr anstrengen, die wenige Zeit so bewusst wie möglich zu genießen, dass selbst in der angeblich schönsten Zeit des Jahres Druck herrscht. Zeit für unsere Eltern, unsere Freunde.
Selbst jetzt, wo körperlicher Kontakt vielleicht nicht möglich ist, können wir intensive Nähe erzeugen. Haben Zeit für ein ausgiebiges Telefonat oder zum Schreiben. Ja, vielleicht sogar mal wieder einen Brief. Wir können die heißgelaufene Maschine runterfahren, bevor sie in ihre Einzelteile zerspringt. Es ist genügend Zeit, einen Blick auf unser Leben zu werfen und in Ruhe zu überlegen, was wir tun. Warum wir es tun. Ob wir es tun müssen. Ob wir es tun wollen.
Wir können wieder sehen, wie schön das Viertel ist, in dem wir leben
Um die Antworten auf diese so wichtigen und so lange im Verborgenen versteckten Fragen zu erhalten, helfen echte Begegnungen. Jetzt können wir mit einem Freund draußen beim ziellosen Herumspazieren stundenlang quatschen und sehen, wohin uns unsere Füße und Gedanken tragen. So wie wir es als Kinder getan haben. Wir können wieder sehen, wie schön das Viertel ist, in dem wir leben. So ist auch das Video entstanden, das die leeren nächtlichen Straßen von St. Pauli zeigt und das wir vor ein paar Tagen ins Netz gestellt haben, mit dem Hinweis auf die Romantik, die in diesen Bildern steckt.
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Die konnten nicht alle sehen oder wollten das Gefühl nicht zulassen, sondern haben auf ihre ganz persönlichen wirtschaftlichen Ängste verwiesen. Wirtschaftliche Ängste, die ihnen den Blick auf das Wesentliche, das Schöne dieser Welt versperren. Da geben sich Arbeitgeber besorgt um ihre Mitarbeiter und es wirkt wie ein Hohn, denn es hat sich schon lange eine Kultur in unsere Gesellschaft eingeschlichen, in der Arbeitnehmer zu anonymen Wegschaffern mit befristeten Arbeitsverträgen geworden sind – für einen Hungerlohn.
Wer es ernst meint mit seiner Sorge, der kann es nun beweisen und Mitarbeiter, die in existenzielle Not geraten, unterstützen. Oder in Zukunft bessere Löhne zahlen und der sozialen Schere entgegenwirken, die wir seit Jahrzehnten spüren.
Jetzt können wir zeigen, dass wir soziale Wesen sind
Die Bilder vom stillen nächtlichen St. Pauli oder das tausendfach geteilte Video aus Italien, in dem die Menschen von den Balkonen aus die Straße mit Musik beschallen, sind keine Verklärung der Realität – sie bebildern diese Chance. Jetzt können wir zeigen, dass wir soziale Wesen sind. So hat ein Leser die Angst-Kommentare ganz richtig mit dem Hinweis versehen, dass er sich über Unterstützung bei seiner Arbeit in einem Krankenhaus freut. Da riskieren Menschen ihre eigene Gesundheit, um anderen zu helfen – wen wundert es da, dass sie es mit der Wut kriegen, wenn andere sich Gedanken darüber machen, wie und ob sie die nächste Leasingrate für ihren Neuwagen bezahlen können?
Dass es sich jetzt lohnt, die wirtschaftliche Angst über Bord zu werfen, zeigt auch der Kommentar von Oliver Kleinfeld, der gerade das „Uwe“ auf der Reeperbahn eröffnet hat und nicht weiß, wie und ob es mit dem Laden weitergeht: „Jetzt gerade flattern mit Chance einige vergessene Gedanken hoch. Der (virtuelle) Walk hat gutgetan. Jammern nützt nichts!“.
Einzige Investition, die sich lohnt, ist die in den sozialen Zusammenhalt
Richtig. Die einzige Investition, die sich jetzt lohnt, ist die in den sozialen Zusammenhalt.
Und so hat uns Antonio Ardente vom Café Favorita in Eppendorf vier Kilogramm von seinem selbst gerösteten Kaffee spendiert, damit wir unsere Nachbarn auf St. Pauli die nächste Zeit mit Espresso versorgen können. Den trinken wir dann in aller Ruhe mit eineinhalb Meter Abstand auf der Treppe vor der Küchentür und kommen uns dabei trotzdem näher. Hören den Vögeln zu, die wir jetzt auf Grund des wenigen Verkehrs wieder hören können und die genauso regenerieren wie die Kanäle von Venedig, die wieder kristallklar leuchten und den Italienern viel Freude bereiten.
Nutzen wir die Chance, die uns diese Krise bietet: Verlassen wir das Gefängnis aus wirtschaftlichen Existenzängsten und treten ein in eine Welt, die von Menschlichkeit und nicht vom Kapital regiert wird.