Das Ehepaar Reh: Hamburgs vergessene Helden bewahrten ein Dorf vorm Untergang
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„Ja, das Ehepaar Reh, das hat uns bei Kriegsende den Hals gerettet!“ Davon erzählen die Leute in Kirchlinteln seit eh und je. Seltsam ist: Abgesehen vom Familiennamen ist über das Paar nur bekannt, dass es aus Hamburg stammte und die Frau Kindergärtnerin war. Was aus ihnen wurde? Keiner weiß es. Nicht mal ihre Vornamen sind überliefert. Als hätte es sie nie gegeben. Als wäre das alles nur eine Legende.
Sie gehen mit der weißen Fahne auf die Briten zu
Kirchlinteln ist ein Ort im Landkreis Verden, nicht weit entfernt von Bremen. Es ist der 16. April 1945. Auf dem Vormarsch in Richtung Hamburg nähern sich britische Truppen dem Dorf und stoßen auf einen zusammengewürfelten Haufen deutscher Marinesoldaten, die den Befehl haben, die Stellung zu halten, komme, was da wolle: 16-, 17-jährige Jungs. Eigentlich Kinder. Aber total verblendet. Glauben immer noch an den „Endsieg“.
Einer dieser Rotzlöffel ist so wahnsinnig, das Feuer zu eröffnen, was die Briten mit dem Einsatz von Flammenwerfern beantworten.
Die ersten Höfe am Ortsrand brennen schon, als sich – so ist es überliefert – das besagte Ehepaar Reh entschließt einzugreifen. Mann und Frau verlassen das Versteck im Keller und gehen mit weißer Fahne in der Hand den britischen Panzern entgegen.
Der Ort Kirchlinteln entgeht nur knapp einer Katastrophe
Dass sich Zivilisten mit Bettlaken wedelnd den Alliierten in den Weg stellen, um Schlimmeres zu verhüten, das gibt es damals häufiger. Aber es sind in aller Regel Ortsvorsteher und Bürgermeister, die so etwas tun. Personen mit Autorität und Macht. Nicht einfache Leute ohne Rückhalt im Ort, wie in diesem Fall.
Gar kein Zweifel, das Ehepaar Reh geht ein großes Risiko ein. Der Mann und die Frau wissen genau, womit Kirchlintelns NSDAP-Ortsgruppenleiter gedroht hat: „Wer die weiße Fahne hisst, wird erschossen!“ Sie wagen es trotzdem. Und verhindern so den sicheren Untergang des Ortes und den Tod vieler Menschen.
Dass Kirchlinteln heute eine malerische Gemeinde ist mit wunderschönen Fachwerkhäusern und einer alten Kirche auf einem Hang – alles echt und nicht bloß originalgetreu wieder aufgebaut – das ist den beiden zu verdanken.
Hermann Meyer will das Geheimnis lüften – und schreibt die MOPO an
Hermann Meyer (67), Mitglied einer Kirchlintelner Geschichtswerkstatt, beschließt Ende vergangenen Jahres, der Sache mit den Rehs auf den Grund zu gehen. Der pensionierte Schriftsetzer will sich nicht damit abfinden, dass noch nicht einmal die Vornamen der beiden Helden bekannt sind. „Es muss doch herauszukriegen sein, wer sie waren!“
Meyer kommt auf die Idee, mit der Hamburger Morgenpost Kontakt aufzunehmen und darum zu bitten, einen Artikel zu veröffentlichen. Seine Hoffnung: In der Hansestadt wird möglicherweise noch jemand leben, der die Rehs kannte. „Vielleicht gibt es Nachfahren. Akten. Tagebücher. Fotos. Irgendwas.“
Der Artikel erscheint – und dann passiert etwas, womit im Ernst niemand gerechnet hätte: Nach einem Dreivierteljahrhundert wird das Geheimnis tatsächlich gelüftet.
Im Staatsarchiv lagern noch die alten Akten
Gerrit Aust, ein Hamburger Historiker, und Matthias Kruse, ein Familienforscher (https://ahnen.kruse-hh.org), haben daran großen Anteil. Beide lesen den Aufruf in der MOPO und obwohl niemand sie dazu aufgefordert hat, steigen sie in die Recherche ein, einfach so, aus Lust am Entdecken. Sie stellen fest, dass ein Journalist namens Carl Reinhard Reh nach dem Krieg einen Antrag auf Wiedergutmachung als NS-Verfolgter gestellt hat und dass die Akten dazu im Staatsarchiv lagern.
Ist das der Gesuchte? Erst ist es nur ein Verdacht. Aber als weitere Belege hinzukommen, besteht bald kein Zweifel mehr. Er ist es!
Und so wird aus einer Legende eine wahre Geschichte: über zwei starke Persönlichkeiten, die nicht nur an diesem 16. April 1945, sondern in zwölf Jahren Nazi-Zeit fast immer den Mut hatten, das Richtige zu tun.
Carl Reinhard Reh ist verwandt mit Karl und Wilhelm Liebknecht
Carl Reinhard Reh wird am 20. Februar 1891 in Bremen geboren. Er hat berühmte Verwandtschaft: Ein Urgroßonkel ist der letzte Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. Dessen Tochter Wilhelmine Natalie Reh heiratet 1868 Wilhelm Liebknecht (1826-1900), einen der Gründerväter der SPD. Sie haben einen Sohn: Karl Liebknecht (1871-1919), Gründer von Spartakusbund und KPD, der in Berlin gemeinsam mit Rosa Luxemburg ermordet wird.
Carl Reinhard Reh wächst in Bad Salzuflen auf, wo sein Vater, ein Chemiker, als Fabrikationsdirektor tätig ist, und zwar in „Hoffmann’s Stärke-Fabrik“ – das berühmte Unternehmen mit der Katze im Logo. Nach dem frühen Tod des Vaters 1905 geht die Mutter mit den Kindern nach Berlin, wo Carl Reinhard bei einem Verlag den Beruf des Zeitungsredakteurs erlernt.
Der junge Mann ist abenteuerlustig, will der Enge des Kaiserreichs entfliehen, geht 1913 in die USA, heuert als Seemann an und bereist die ganze Welt. Im Juli 1915 – der Erste Weltkrieg ist seit einem Jahr im Gange – gehört er zur Crew des US-Frachtschiffs „Leelanaw“, das vor den schottischen Orkney-Inseln von einem deutschen U-Boot aufgebracht wird. Der Kommandant von U 41 ist so human, der Besatzung zu erlauben, sich in die Rettungsboote zu begeben. Erst dann torpediert und versenkt er das Dampfschiff.
Reh, der sich zusammen mit der übrigen Crew rudernd bis in den nächsten Hafen rettet, befindet sich jetzt unversehens in einem Land, das mit Deutschland im Krieg ist. Als er in Liverpool nach New York einschiffen will, gibt er vorsichtshalber an, Niederländer zu sein. Aber seine wahre Nationalität kommt raus, er wird verhaftet und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die Zeit bis 1918 verbringt er in England und den Niederlanden als Zivilinternierter.
Wegen der Nazis hängt er seine Journalisten-Karriere an den Nagel
Nach Kriegsende kehrt er in die Heimat zurück und startet in Hamburg eine Karriere als Redakteur englischsprachiger Wirtschaftszeitungen. Er spielt mit dem Gedanken, abermals nach Amerika auszuwandern, dann verliebt er sich aber, heiratet 1924 Paula Fuchs – und die Auswanderungspläne geraten in Vergessenheit.
Als 1933 die Nazis die Macht erringen, bricht für ihn eine Welt zusammen: „Mir blieb nichts anderes übrig, als aus meinem journalistischen Beruf auszuscheiden“, schreibt er später in einem Brief an das Amt für Wiedergutmachung. Sich den Nazis anzubiedern und Mitglied der NSDAP zu werden, wie immer wieder von ihm verlangt wird, das lehnt er ab.
Was nicht ohne Folgen bleibt: Zwei Mal wird er von der Gestapo verhört, entgeht nur knapp dem KZ. Um sich über Wasser zu halten, verdingt er sich als Ziegelsteinputzer und verlädt im Schuppen 57 am Kamerunkai Kartoffeln. Später findet er eine Anstellung bei den Hamburger Wasserwerken.
Es geht spürbar bergab mit ihm. Die harte Arbeit macht ihn krank. Seine Ehe scheitert, es kommt zur Scheidung. Sein Sohn Michael stirbt 1939 nur zwei Tage nach der Geburt. Reh ist ein gebrochener Mann.
Dann trifft er eine Frau, die ihm nicht mehr aus dem Sinn geht: Hedwig.
Hedwig Reh ist kein Nazi – und wird fristlos entlassen
Hedwig Auguste Henny Abendroth wird am 9. Juni 1897 in Hamburg geboren. 1919 legt sie an der Gewerbeschule für Mädchen ihre Prüfung zur Kindergärtnerin ab. In Rom arbeitet sie bei Maria Montessori, der berühmten Reformpädagogin, lernt auch deren Sohn Mario kennen, mit dem sie ein Techtelmechtel hat.
Zurück in Hamburg findet sie 1930 eine Anstellung bei der Vereinigung Hamburgischer Kinderheime und wird Heimleiterin. Als die Nazis 1933 die Macht übernehmen, wird Hedwig bedrängt, NSDAP-Mitglied zu werden. Doch sie ist eine Frau, die weiß, was sie will – und nicht will. Sie lehnt ab: Hitler sei für sie nicht der Mann der Wahrheit und des Friedens.
Kein Wunder, dass sie von da an unter verschärfter Beobachtung steht und 1935 fristlos entlassen wird. Eine Zeitlang arbeitet sie als Verkäuferin in einem Spielwarenladen, bevor sie 1937 im Haus Blumenau 89 in Eilbek einen privaten Kindergarten eröffnet, der – das geht aus Akten im Staatsarchiv hervor – auffällig häufig kontrolliert wird. Es gibt eine Anweisung der Polizeibehörde, monatlich ein Mal einen Beamten vorbeizuschicken.
Der Kindergarten in Eilbek wird 1943 ausgebombt
Bei den verheerenden Bombenangriffen im Sommer 1943 wird das Haus und damit die Existenz von Hedwig Abendroth vollständig vernichtet. Hedwig und ihr Verlobter Carl Reinhard Reh ziehen erst nach Timmendorfer Strand, später nach Kirchlinteln. 1944 heiraten sie.
Schließlich marschieren die Briten in den Ort ein: Was am 16. April 1945 genau geschieht, schildert Carl Reinhard Reh in einem Brief ans Amt für Wiedergutmachung so: „Als die Engländer hier anrückten, haben wir im Endstadium noch mal ein kleines Risiko übernommen und die Zerstörung unseres Dorfes abgewendet, indem wir zu den anrückenden Engländern hinausgingen und sie veranlassten, die Niederbrennerei der Höfe, mit der sie schon begonnen hatten, wieder einzustellen.“ Reh selbst ist offenbar nicht der Meinung, etwas Bedeutendes getan zu haben. „Kleines Risiko.“ Dabei hätte sich ohne seinen Mut und ohne seine Englischkenntnisse eine Katastrophe ereignet. „Der britische Offizier ließ seine beiden Flammenwerfer wieder abrücken“, so Reh weiter. „Uns selbst wurde aufgegeben, wieder in unseren Keller zurückzugehen.“
„Wir haben ein kleines Risiko auf uns genommen, als die Engländer kamen“
Als die deutschen Soldaten Reißaus nehmen, besetzen die Briten den Ort. Kein Schuss fällt mehr. Der Krieg ist für Kirchlinteln zu Ende. Nur noch drei Wochen, dann kapituliert das Deutsche Reich.
Carl Reinhard und Hedwig Reh wollen wieder arbeiten, er als Journalist, sie als Kindergärtnerin. Er engagiert sich politisch, wird Kreisvorsitzender der eben erst gegründeten FDP in Verden. Beide hoffen, als Nazi-Gegner im Nachkriegs-Deutschland bevorzugt behandelt zu werden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Schon der Antrag, nach Hamburg zurückzukehren, geht nicht durch – damals ist wegen des Mangels an Wohnraum eine Zuzugsgenehmigung nötig. Auch lehnen es die Behörden ab, Hedwig Reh die Genehmigung zu erteilen, im Haus einer Verwandten in Bergedorf einen Kindergarten zu eröffnen – es werde als Wohnraum dringender benötigt.
Verbittert und enttäuscht wandert das Ehepaar nach Schweden aus
„Wir Nazi-Gegner sind die Gelackmeierten“, so platzt es aus Carl Reinhard Reh heraus. Auch seine Frau nimmt kein Blatt vor den Mund: In einem Brief an Hamburgs Jugendsenatorin Paula Karpinski (SPD) protestiert sie dagegen, dass überall in den Ämtern noch alte Nazis auf ihren Posten säßen. In der Vereinigung Hamburgischer Kinderheime hätten genau diejenigen das Sagen, die ihr in der Nazi-Zeit Knüppel zwischen die Beine geworfen hätten – und jetzt täten sie es erneut. Eine Schande!
Die Rehs erkennen: In Deutschland haben sie keine Chance. Frustriert wandert das Ehepaar 1951 nach Schweden aus, in ein Land, das Hedwig Reh schon aus ihrer Jugend kennt. Sie war dort Au-pair-Mädchen.
Carl Reinhard stirbt wenige Monate nach Ankunft. Für Hedwig wird die Stadt Helsingborg zur neuen Heimat. Sie gründet einen privaten Kindergarten, genießt hohes Ansehen. Über ihre Zeit in Deutschland spricht sie wenig. Fragen werden ihr keine gestellt. Viele glauben, sie sei Jüdin.
„Die Frau mit dem Kindergarten und den unverarbeiteten Hassgefühlen“
1965 startet die Kirchengemeinde Helsingborg einen deutsch-schwedischen Jugendaustausch mit der St. Petri-Kirchengemeinde Geesthacht – und die Organisation fällt Hedwig Reh zu. Mit einer deutschen Teilnehmerin, der 24-jährigen Hannelore Besser, hat sie ein inniges Verhältnis, aber Freundschaft entsteht nicht. „Es blieb ein heimlicher Vorwurf. Ich gehörte zum Tätervolk, auch wenn sie mir die ,Gnade der späten Geburt‘ zugestand“, so schreibt Hannelore Besser – inzwischen Autorin – in ihren Erinnerungen und nennt Hedwig Reh „die deutsche Frau mit dem Kindergarten in Schweden und den unverarbeiteten Hassgefühlen“.
1991 stirbt Hedwig Reh 94-jährig. Aus dem Kindergarten wird eine Seniorenbegegnungsstätte. Eva Adrielsson, eine Freundin, hütet immer noch Hedwigs Nachlass. Einige der Fotos in diesem Bericht stammen von ihr.
In der Schweiz gelingt es uns, eine der letzten lebenden Verwandten aufzuspüren. Vreni Reh aus der Nähe von Zürich erinnert sich gerne an „Tante Hedwig“. Ein liebevoller Mensch sei sie gewesen. Eine starke Persönlichkeit. Die Schweizerin liefert den letzten Baustein für unsere Geschichte: ein Foto von Carl Reinhard Reh.
Bald soll ein Buch über die Helden von Kirchlinteln erscheinen
Erinnern wir uns: Vor zwei Monaten wussten die Heimatforscher in Kirchlinteln nicht mehr vom Ehepaar Reh als den Familiennamen. Heute ist so viel Material beisammen, dass es für einen Artikel reicht, der den Rahmen üblicher MOPO-Reportagen deutlich sprengt. Demnächst will die Geschichtswerkstatt sogar ein Buch rausbringen. Es wird nicht nur von einem Ehepaar handeln, das einen kleinen Ort vor dem Untergang bewahrte. Es wird auch handeln von Menschen, denen zwei Weltkriege die besten Jahre raubten und die in dunkelsten Stunden deutscher Geschichte das Rückgrat hatten, ihren Überzeugungen treu zu bleiben. Sie opferten viel dafür.