Dem Tod auf den Fersen: MOPO-Reporter-Legende Thomas Hirschbiegel und seine Storys
Es fiept und piept und rauscht. Männer raunen sich lapidare Sätze zu. Ein bisschen wie bei der Mondlandung. Und mittendrin zwischen den Polizeifunk-Scannern, aus deren Lautsprechern diese Kakophonie dringt, steht ein drahtiger Mann mit Nickelbrille an einem Pult, guckt angespannt und hackt mit zweieinhalb Fingern einen Text in die Tastatur. Sein Telefon klingelt. Er nimmt ab. „Ja? Gleich!“ Dann ballert er den Hörer auf die Gabel, dass das Plastik knirscht. So bin ich Thomas Hirschbiegel vor 23 Jahren zum ersten Mal begegnet. Heute ist die Reporter-Legende seit 46 Jahren (!) im Dienste der MOPO. Eine Auswahl seiner Fotos und Geschichten erscheint jetzt als Buch.
„Leichen pflastern seinen Weg“ hieß ein Italo-Western mit Klaus Kinski. Und Tote hat auch Hirschbiegel mehr gesehen als jeder andere aus der Redaktion. Im November 1976 erschien sein erstes Foto in der MOPO. Ein Unfall mit einem Opel Rekord. Thomas war 17 Jahre alt. Es folgten unter anderem: Raubmorde, Sexualmorde, Kindermorde, Elternmorde, Rotlichtmorde, Mafiamorde, Auftragsmorde, Eifersuchtsmorde. Mit Bildern von Thomas: Opfer, Täter, Tatort, Spurensicherung. Und: Eltern des Opfers, Nachbarn des Täters, Zeugen der Tat.
Thomas war immer da, wo es krachte. Weil er immer „online“ war, lange bevor es das Internet gab. Thomas hörte in den 70ern nämlich nicht ABBA und Smokie im Radio, er hörte Michel 1 bis 4. Ein Kofferradio, das der einstige Bote der Pöseldorfer Apotheke von einer Bewohnerin eines Altenheims als Trinkgeld bekam, empfing auch den Polizeifunk, aber nur in der Küche der mütterlichen Wohnung an der Eimsbütteler Bundesstraße. Die vier Funkkreise, über die die Peterwagen in die Einsätze geschickt wurden, wurden fortan zu seiner rauschenden Nachtmusik. Ein Sessel in der Küche zu seinem Bett. Immer wenn die Stimmen im Radio aufgeregter wurden, wenn es nach Gewalt und Unfall und Feuer klang, schreckte der 17-jährige Thomas hoch, schwang sich aufs Rad – und machte Fotos.
Die MOPO profitierte von Thomas’ Arbeit und seinen blendenden Kontakten zur Polizei
Thomas’ Ehrgeiz war grenzenlos. Sein Einsatz auch. Immer Vollgas. Immer Erster sein. Ohne Rücksicht auf Verluste. Auch auf eigene. 1981 stürzte er bei einem Großfeuer auf der Suche nach dem besten Foto-Standort durch ein Dach. Er fiel sechs Meter tief, brach sich mehrere Wirbel und einen Fuß, erlitt innere Verletzungen. Drei Wochen später war er wieder unterwegs. Mit Korsett und Krücken.
So protokollierte er über Jahrzehnte als „schnellster Reporter der Stadt“ Zeitgeschichte. Hamburger Kessel. Dom-Unglück. Rotlicht-Kriege. Osmani-Affäre. Aber auch den ganz normalen Wahnsinn von nebenan. Mord und Totschlag in Familien, unter Nachbarn, Zech-Kumpanen. Grausige Unfälle mit Autos ohne Airbag und vor der Gurtpflicht. Alles hart und direkt. Wie die Zeit, in der es passierte.
Thomas hörte nicht ABBA und Smokie, sondern Polizeifunk
Die Faszination für Blut und Feuer war über Jahrzehnte Grundlage des Erfolgs der Boulevardpresse. Die MOPO profitierte glänzend von Thomas’ Arbeit und seinen inzwischen blendenden Kontakten zur Polizei. Er verstand, wie die „Cops“ tickten. Für sie war er ein verlässlicher Partner in der ansonsten traditionell kratzbürstig-linken Redaktion. Es war ein Geben und Nehmen.
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Thomas bekam Adressen von Opfern und klingelte bei Angehörigen an der Tür. Oft zusammen mit Thomas Osterkorn, der damals beim „Abendblatt“ war und später als „Stern“-Chefredakteur Karriere machte. Er bat dort um Fotos, die lächelnde Kinder zeigten, oft kurz nachdem er deren Abtransport im Sarg vom Tatort fotografiert hatte. Und er bekam sie auch. Im Branchenjargon nannte man das zynisch „Witwenschütteln“. Thomas war hocheffektiv. Und von all dem damals völlig unberührt, wie er später erzählte. Die Exklusivgeschichte am nächsten Tag war alles, worum es ging. Und es gab viele Exklusivgeschichten. Und viele Chefs, die Thomas damit happy machte.
Das Wort und das Urteil von Thomas Hirschbiegel zählte immer viel bei der MOPO, egal wer Chefredakteur war. Weil er meist sehr direkt seine Meinung sagte. Und weil kaum jemand den Boulevard und seine Regeln so sehr gelebt und verinnerlicht hat wie er.
Ich kenne nur wenige Menschen, die sich so stark neu erfunden haben wie Thomas.
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Früher war er ein journalistischer Bluthund. Heute ist er MOPO-Chefreporter mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung und einem Sinn fürs Feingeistige. Er hat ein Faible für „Lost Places“, also leerstehende alte Häuser, ist „Flohmarktfuchs“, „Kolbenfresser“ und Kunstliebhaber. Und eines der bei den Lesern bekanntesten und beliebtesten Gesichter der Redaktion. Und noch immer schwerwiegende Stimme in der Redaktion.
Früher war er für seine Ellenbogen auch gefürchtet, heute ist er väterlicher Förderer junger Kolleginnen und Kollegen.
Früher, als Thomas erstmals auch vermehrt schrieb, waren seine eher grobschnittigen Artikel der Schrecken aller Kollegen, die sie bearbeiten mussten. Heute ist er Autor pointierter Texte, die nicht nur von der Nachricht leben, sondern oft feine Lesekost sind.
Als die Polizei auf Digitalfunk umstellte, fiel es Thomas nach all den Jahrzehnten schwer, ohne das Grundrauschen von Michel 1 bis 4 einzuschlafen. Und wenn er heute über den Bildern brütet, die er aus dem Archiv holt, um sie für seine True-Crime-Serie „Tatort Hamburg“ zu verwenden, zu der jetzt auch ein Buch erschienen ist, dann fühlt sich das oft anders an als damals, als er sie gemacht hat. „Ich musste eben fast heulen. Ich verstehe nicht, wie mich das damals alles so kaltlassen konnte“, sagte er neulich, als er das Foto eines kleinen Jungen in der Hand hielt, der in den 80ern Opfer eines Verbrechens wurde.
Die Zeiten haben sich geändert. Und das ist manchmal auch eine gute Sache.
Buch: „Tatort Hamburg“, Junius-Verlag, 128 S., 24,90 Euro
Lesung: Am 21. November liest Autor Thomas Hirschbiegel ab 18 Uhr aus seinem neuen Buch „Tatort Hamburg“ (hier geht’s zur Anmeldung). Dabei wird er spannende Einblicke in seine Recherche geben. Moderiert wird die Veranstaltung von Viola Dengler, die sicherstellt, dass keine Frage unbeantwortet bleibt. Ort: Hamburger Morgenpost, Barnerstraße 14, Kosten: 5 Euro.