• Trauer um die Mordopfer: Bei der Beerdigungszeremonie tragen Vietnamesen Kränze und Fotos der beiden Opfer.
  • Foto: thomas Grimm

Der Tag, an dem …: Sie schliefen, als die Brandsätze durchs Fenster flogen

Diese Nacht wird Ngu Thoi Trong nie vergessen. Der 59-Jährige erzählt, er habe es knallen hören, dann Feuer gesehen. Zuerst habe er an einen Kurzschluss oder so was gedacht. „Ich war 19 Jahre alt. Was ein Anschlag ist, wusste ich nicht. Außerdem dachte ich, dass es in Deutschland keine bösen Menschen gibt.“ Draußen vor dem Haus habe dann dieser Schriftzug auf der Mauer gestanden: „Ausländer raus!“ „Ich wusste nicht, was das bedeutet. Dafür reichte mein Deutsch noch nicht.“

Halskestraße 72 in Billbrook. Heute ein Hotel. „Plaza Inn“, so der hochtrabende Name für den alten Plattenbau. Vor genau 40 Jahren, als das Gebäude ein Wohnheim für vietnamesische Flüchtlinge war, ereignete sich hier der erste rassistische Mord in der Geschichte der Bundesrepublik.

Gedenkveranstaltung an rassistischen Anschlag

Weil sich der Anschlag dieses Jahr zum 40. Mal jährt, wird es heute ab 16 Uhr vor dem Gebäude Halskestraße 72 eine Gedenkveranstaltung geben. Am kommenden Wochenende soll dann auf dem Öjendorfer Friedhof erstmals eine feste Gedenkstätte eingeweiht werden. 

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Ngu Thoi Trong (59) hat den Anschlag als Bewohner des Flüchtlingsheims erlebt. „Durch dieses Fenster flogen die Brandsätze“, sagt er.

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Wunder

An diesen Ort zurückzukehren, löst bei Ngu Thoi Trong zwiespältige Gefühle aus: Einerseits begann hier sein neues Leben, und er ist sehr dankbar, diese Chance bekommen zu haben. „Andererseits sind hier zwei meiner Landsleute gestorben, die genauso eine Chance verdient hatten. Kommen Sie“, sagt er, führt uns ums Haus herum und zeigt mit dem Finger auf ein Fenster: „Da ist es passiert!“

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Der Tatort heute: Aus dem Flüchtlingsheim ist ein Hotel geworden. „Plaza Inn“, ein etwas hochtrabender Name für den alten Plattenbau.

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Wunder

Anschlag auf Flüchtlinge: Das waren die Attentäter

Es ist die Nacht vom 21. auf den 22. August 1980. Die Attentäter heißen Raymund Hörnle und Sibylle Vorderbrügge. Ihr Auto haben sie rund 100 Meter entfernt geparkt. Das letzte Stück bis zum Flüchtlingswohnheim gehen sie zu Fuß. Drei mit Benzin gefüllte Flaschen haben sie dabei.

Ziel der Neonazis ist es, möglichst großen Schaden anzurichten. Deshalb entscheiden sie sich, ihre Brandsätze nicht in eines der beleuchteten Fenster zu werfen – jemand könnte die Flammen unter Umständen schnell löschen –, sondern in das Fenster im Hochparterre, hinter dem es dunkel ist. Krachend durchschlägt die erste Flasche die Scheibe. Bevor sie verschwinden, kritzeln die Attentäter mit roter Farbe die Worte „Ausländer raus!“ auf die Hauswand.

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Die Flüchtlinge Nguyen Ngoc Châu (l.) und Do Anh Lân mit ihrer deutschen Patenmutter Gisela von Goldammer. Fünf Wochen nachdem dieses Polaroid entstanden war, verübten Neonazis den tödlichen Brandanschlag auf die jungen Männer.

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privat/hfr

Nguyen Ngoc Châu (22) und Do Anh Lân (18) liegen im Bett, als die Brandsätze ins Zimmer fliegen. Die Bettwäsche, die Haut, die Haare, alles steht in Flammen. Ein Flüchtling aus dem Nebenraum trommelt gegen die verschlossene Tür. Kurz darauf laufen die beiden Männer wie lebende Fackeln nach draußen. Ein Augenzeuge berichtet, die Haut habe in Fetzen an ihren Armen heruntergehangen.

Beide Opfer sterben im Krankenhaus

Nguyen Ngoc Châu stirbt am nächsten Morgen kurz nach neun Uhr. Um das Leben von Do Anh Lan kämpfen die Ärzte im Unfallkrankenhaus Boberg noch neun Tage. Dann erliegt auch er seinen schweren Verletzungen.

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Das Zimmer der beiden Getöteten: überall Spuren des Brandanschlags.

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dpa

Nguyen Ngoc Châu und Do Anh Lân gehören zu den eineinhalb Millionen Vietnamesen, die nach dem Ende des Vietnamkriegs dem Terror des kommunistischen Regimes zu entkommen versuchen und die Flucht übers offene Meer antreten – manchmal zu Hunderten in winzigen Booten. Nicht selten werden die Flüchtlinge unterwegs von Piraten ausgeraubt, die Frauen vergewaltigt. Viele der sogenannten „Boat People“ überleben nur deshalb, weil Rupert Neudeck sie mit seinem Frachter „Cap Anamur“ rechtzeitig aus dem Wasser fischt.

Hamburg nahm vietnamesische Flüchtlinge auf

Hamburg nimmt in großzügiger Weise vietnamesische Flüchtlinge auf. Die Sozialbehörde verwandelt den Plattenbau an der Halskestraße, bis dahin Unterkunft für Gastarbeiter, in ein Wohnheim für Vietnamesen. Das Rahlstedter Ehepaar Heribert und Gisela von Goldammer – er Außenhandelskaufmann, sie Bankkauffrau – lesen in der Zeitung, dass die Stadt Paten sucht, die den Flüchtlingen bei der Integration helfen, und melden sich.

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Haben sich als Pateneltern um die beiden jungen Männer gekümmert: Heribert (79) und Gisela von Goldammer (86).

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Wunder

„Eines Tages wurde uns also Nguyen Ngoc Châu als Ziehsohn zugeteilt“, wie Heribert von Goldammer schmunzelnd erzählt. „Die Verständigung war schwierig, aber mit Händen und Füßen haben wir das irgendwie hingekriegt“, erinnert sich seine Frau.

Hamburger Ehepaar wird Pateneltern für junge Vietnamesen

Das Ehepaar nimmt Nguyen Ngoc Châu und auch dessen Zimmergenossen Do Anh Lân häufig mit an die Alster, an die Elbe und zum Dom. Auch bei Behördengängen begleiten sie die beiden. Die Eheleute kümmern sich um alles – zwei Monate lang. Bis zum Attentat am 21. August 1980. Dieser Tag – „ein Albtraum, der nicht enden will. Bis heute“, sagt Gisela von Goldammer.

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Manfred Roeder war einer der führenden Köpfe der deutschen Neonazi-Szene und Vorbild für den NSU. Seine „Deutschen Aktionsgruppen“ verübten 1980 den Anschlag.

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dpa

Nazi als Drahtzieher des Anschlages 

Drahtzieher des Anschlags ist Manfred Roeder (1929-2014), ein Rechtsanwalt, der sich als Erbe von Hitler-Nachfolger Karl Dönitz sieht und sein Anwesen im nordhessischen Schwarzenborn nicht zufällig „Reichshof“ tauft. Roeder ist seit den 70er Jahren einer der führenden Köpfe der rechtsextremistischen Szene in Deutschland. Er verschickt Todeslisten, auf denen die Namen all jener stehen, die er ermordet sehen will: „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer, Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld, Journalistin Marion Gräfin Dönhoff und SPD-Chef Willy Brandt beispielsweise. Und Roeder macht Ernst. Er gründet eine Terrorzelle: die „Deutschen Aktionsgruppen“.

Die drei Menschen, die für ihn Attentate ausführen, sind der 49-jährige HNO-Arzt Dr. Heinz Colditz, der ebenfalls 49-jährige Werkmeister Raymund Hörnle und Roeders 24-jährige Geliebte Sibylle Vorderbrügge, eine Radiologie-Assistentin. Manchmal zu zweit, manchmal zu dritt fahren die Terroristen durchs Land und verüben Anschläge: Sie werfen Brandflaschen in die Fenster eines Hotels im schwäbischen Leinfelden, in dem Jugendliche aus Eritrea untergebracht sind. Auch in Lörrach attackieren sie ein Flüchtlingsheim.

Tatört: das Wohnheim Halskestraße

Dann kommt der 21. August 1980. Vorderbrügge und Hörnle sind auf der Autobahn in Richtung Norden unterwegs. In Hamburg tanken sie, kaufen sich bei dieser Gelegenheit eine Ausgabe des „Hamburger Abendblatts“. Darin stoßen sie auf einen Artikel, der ihr Interesse weckt. Es geht um 19 Roma und Sinti sowie zehn Afghanen, die aus einem Flüchtlingslager bei Fulda nach Hamburg abgeschoben worden sind und hier nun in einem Wohnheim untergebracht werden sollen. Das „Abendblatt“ schreibt, die Verärgerung darüber sei groß, weil Hamburg „derzeit schon mit 9000 Asylbewerbern überlastet ist“. In dem Artikel ist das Wohnheim in der Halskestraße ausdrücklich genannt.

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Das Flüchtlingsheim an der Halskestraße am Tag nach der Tat. Polizeibeamte und Reporter vor dem Gebäude.

Foto:

Hirschbiegel

So ändern Hörnle und Vorderbrügge kurzfristig ihre Pläne. Sie telefonieren mit Roeder, der ihnen einen Unterschlupf bei einem Gleichgesinnten in Barmbek verschafft, wo sie die Zeit bis zum späten Abend verbringen. Dann brechen sie auf in Richtung Billbrook – im Kofferraum drei Flaschen mit Benzin.

Anschlag auf Vietnamesen: So wurden die Täter gefasst

Dass die Täter nach dem Anschlag ziemlich schnell ermittelt werden, ist aufmerksamen Zeugen zu verdanken, die ein paar Tage zuvor an der Autobahn 7 bei Thieshope einen Mann und eine Frau dabei beobachtet haben, wie sie „Ausländer raus“ auf ein Autobahnschild pinselten. Da sich die Zeugen das Kennzeichen notiert haben, sind Sybille Vorderbrügge und Raymund Hörnle schon bald in Haft, später auch Heinz Colditz.

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Im Hochparterre: das Fenster, durch das die Rechtsterroristen ihre Brandsätze warfen. Die beiden Bewohner schliefen schon.

Foto:

Hirschbiegel

1982 stehen sie gemeinsam mit Manfred Roeder wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ vor Gericht. Raymund Hörnle wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Sybille Vorderbrügge kommt mit zwölf Jahren davon, HNO-Arzt Colditz mit sechs. Drahtzieher Manfred Roeder, der die beiden Vietnamesen im Gerichtssaal auch noch verhöhnt – sie seien keine Menschen, sondern „Halbaffen“ –, bekommt 13 Jahre, von denen er wegen guter Führung nur acht absitzen muss.

Die Verbindung zu den NSU-Terroristen

Nach seiner Entlassung macht Roeder weiter wie zuvor: Er wird zum Vorbild für die spätere Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Als Roeder 1996 in Erfurt wieder mal vor Gericht steht – diesmal wegen eines Farbanschlags auf eine Wehrmachtsausstellung –, befinden sich unter den Prozessbeobachtern auch zwei Männer, die später noch Schlagzeilen machen werden: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

400 Menschen, vor allem Vietnamesen, sind bei der Beerdigung der Getöteten dabei. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) hält die Trauerrede.

400 Menschen, vor allem Vietnamesen, sind bei der Beerdigung der Getöteten dabei. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) hält die Trauerrede.

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thomas Girmm

Die beiden ermordeten Vietnamesen werden auf dem Öjendorfer Friedhof beigesetzt. 400 Menschen nehmen an dem Begräbnis teil. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) hält die Grabrede. „Die Toten, um die wir trauern, mahnen uns“, sagt er. Danach geraten die Opfer und die Tat schnell in Vergessenheit. Heute erinnert nicht einmal ein Grab an die beiden – es wurde schon vor vielen Jahren aufgelöst.

Keine Entschädigung für Mutter des Opfers

Bald nach der Beisetzung wird der Mutter von Do Anh Lân der Nachzug nach Deutschland genehmigt – obwohl ihr Sohn nicht mehr lebt. Das ist aber auch die einzige Geste der Versöhnung, die der deutsche Staat für sie hat: Niemand spricht ihr das Beileid oder sein Bedauern aus. Eine Entschädigung erhält sie nicht.

Geld will Frau Do Mui auch gar nicht. Sie will etwas anderes: eine Gedenkstätte für ihren Sohn und seinen Freund. Für andere Opfer rassistischer Gewalt gebe es so etwas doch auch, sagt sie.

Initiative für Gedenken an die Opfer des Anschlags

Es existiert eine Gruppe von Bürgern, die Do Mui unterstützt: Die „Initiative für ein Gedenken an Nguyen Ngoc Châu und Do Anh Lân“. Ihre Mitglieder sind der Überzeugung, dass der Mord von 1980 raus muss aus dem Dunkel des Vergessens. Inzwischen ist es dem Verein gelungen, auch die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte zu überzeugen. Allerdings sperrt sich die Kulturbehörde immer noch. Sie ist dagegen, dass die Halskestraße oder auch nur ein kurzes Stück davon in Châu-und-Lân-Straße umbenannt wird.

Ziel: Halskenstraße soll umbenannt werden

Weil sich der Anschlag dieses Jahr zum 40. Mal jährt, gab es heute eine Gedenkveranstaltung am Tatort von damals. Und am kommenden Wochenende soll auf dem Öjendorfer Friedhof erstmals eine bleibende Gedenkstätte eingeweiht werden. Das Ziel – die Umbenennung eines Teils der Halskestraße – gibt die Initiative deshalb aber nicht auf. „Wir sind zäh und verhandeln weiter“, so heißt es.

Etwas irritierend ist, dass es ausgerechnet in Hamburgs vietnamesischer Community Stimmen gibt, die strikt gegen eine Gedenkstätte sind. Manche glauben, es könnte der Eindruck entstehen, die Vietnamesen seien undankbar, wenn sie den Staat, der sie damals mit offenen Armen aufgenommen hat, auf die Anklagebank setzen. Eine Gedenkstätte wäre, so fürchten sie, eine „politische Provokation“.

Zeitzeuge: Es geht um Erinnerung

Dem widerspricht Ngu Thoi Trong, unser Zeitzeuge, vehement. „Es geht doch gar nicht darum, jemanden anzuklagen oder zu provozieren“, sagt er. „Es geht um Erinnerung. Wir sind der Meinung, man darf das, was hier passiert ist“ – und er schaut noch mal zum Fenster, durch das die Brandsätze flogen – „nicht vergessen. Verzeihen ja! Aber niemals vergessen. Denn sonst passiert so was morgen wieder.“

Ngu Thoi Trong (59) hat den Anschlag als Bewohner des Flüchtlingsheims erlebt. „Durch dieses Fenster flogen die Brandsätze“, sagt er.

Haben sich als Pateneltern um die beiden jungen Männer gekümmert: Heribert (79) und Gisela von Goldammer (86)

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