„Ein gesegneter Ort“: Nienstedten sammelt Rekordsumme für kranken Fahrradhändler
Als Helge Jerxsen (55) vor acht Jahren seinen kleinen Fahrradladen im Herzen von Nienstedten eröffnete, konnte keiner ahnen, was das für eine Liebesgeschichte wird zwischen dem freundlichen Zweiradmechaniker und den Bewohnern des reichsten Hamburger Stadtteils – und was „das Dorf“ stemmen würde, um seinem „heimlichen Bürgermeister“ unter die Arme zu greifen, als der eine schlimme Diagnose erhält.
Gutartiger Gehirnturmor, OP, Komplikationen, halbseitige Lähmung, Reha, so die Kurzfassung des gesundheitlichen Dramas, in dem Helge Jerxen sich Ende Januar unvermittelt wiederfand. Neben dem Schock über die „gruselige Diagnose“ stand von Anfang an die Existenzangst. Jerxsen betreibt sein Geschäft alleine, was heißt: Wenn er im Krankenhaus ist, bleibt der Fahrradladen in der Sophie-Rahel-Jansen-Strasse geschlossen, während alle Kosten natürlich weiterlaufen – inklusive Kreditraten, denn anders als die meisten seiner Kunden ist der leidenschaftliche Fahrradschrauber und frühere Schlagzeuger nicht reich: „Wenn dieses Wunder von Nienstedten nicht passiert wäre, wäre ich zahlungsunfähig geworden, ich wäre finanziell kaputt gegangen und hätte womöglich noch meine Familie mit in den Abgrund gezogen.“
Spendenaktion für „unseren liebsten Fahrradfreund“
Was der Vater dreier Kinder (und Opa eines Enkelkindes) als Wunder betrachtet, ist eine Spendenaktion, die eine Kundin spontan für „unseren liebsten Fahrradfreund Helge“ ins Leben gerufen hat und die binnen weniger Tage mehr als 18.000 Euro brachte. Jerxsen hat spürbar einen Kloß im Hals: „Das Geld ist meine Rettung, aber was fast noch wichtiger ist: Was wir hier erleben, dieser Zusammenhalt, das ist ein Geschenk für uns alle.“ Man muss den Fahrradhändler nur ein bisschen erzählen lassen, und es wird klar, warum Nienstedten ihm so eine Welle von Sympathie entgegenbringt.
Ein Fahrradladen im nobelsten Stadtteil Hamburgs, der könnte Höchstpreise verlangen, die Kunden würden sie ohne mit der Wimper zu zucken bezahlen. Ist aber nicht Helge Jerxsens Ding. Er nimmt seine Preise und gut ist: „Meine Kunden machen sich eher Sorgen um mein Auskommen und fragen, ob ich damit zurecht komme, das sei ja so wenig.“ Wenn ein Kind mit einem kaputten Licht oder einem Platten kommt, dann wird so ein kleines Malheur auch mal schnell gratis behoben: „Und dann kommen die Eltern später in den Laden und können das kaum glauben, dass sie nichts bezahlen müssen“, sagt Jerxsen.
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Jedenfalls: Der 40-Quadratmeter-Laden (Jerxsen: „Meine Frau hat den schick eingerichtet wie wie eine Boutique“) entwickelt sich schnell zum Kommunikationszentrum von Nienstedten: „Bei mir geht keiner vorbei, ohne zu winken“, sagt der Fahrradhändler. Um 6.30 Uhr geht das Licht an, wenig später kommen schon mal die ersten Mütter mit kaputten Kinderrädern, die „natürlich“ pünktlich zum Schulschluss repariert wieder abgeholt werden können. Und wen er nicht von seiner Werkstatt kennt, den kennt er vom Gassigehen mit seinem Hund. „Ich wurde schon als heimlicher Bürgermeister von Nienstedten bezeichnet“, sagt Jerxsen, der in Ottensen wohnt – und man hört die Freude über den Ehrentitel.
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Ob schwerreicher Reeder oder prominenter Anwalt, halb Nienstedten duzt sich mit „Helge“ und bringt seinem handwerklichen Geschick Hochachtung entgegen. Die Tochter möchte ihr Rad rosa umlackiert bekommen? Klar, welches Rosa darf’s denn sein? Ein bekannter und betagter Schauspieler fragt, ob es eine Möglichkeit gebe, den Sattel elektrisch hoch und runter fahren zu lassen? Und überhaupt, wie kommt man im Alter noch elegant aufs Rad? Helge Jerxsen entwirft eine Sonderanfertigung, ein E-Bike mit allen Schikanen, inklusive Sattelfahrstuhl und ohne das, was er „finanzielles Ausziehen“ des Kunden nennt.
Aus Zufall in Hamburg gelandet
So mancher, der für einen irren Stundensatz geschliffene Schriftsätze verfasst, ist froh, wenn ihm jemand geduldig zeigt, wie man einen Reifen flickt – und dafür nur die Kosten für den Schlauch berechnet, mit der Begründung: „Gern geschehen.“ Nicht alles rausholen, was geht, das kommt in der Welt der Millionäre nicht so häufig vor. Kein Zweifel: Die hohe Spendensumme hat viel mit der Persönlichkeit des Fahrradhändlers zu tun.
Dass Helge Jerxsen in Hamburg gelandet ist, war Zufall. Bis zum Jahr 2000 lebte er in seiner Heimatstadt Göttingen, das aber für aufstrebende Musiker nur so mittelprächtig ist: „Wir überlegten als Band, ob wir nach Köln, Berlin oder Hamburg ziehen sollen.“ Es wurde Hamburg, Helge Jerxsen spielte als Studio-Schlagzeuger für Stars wie Fanta Vier oder Wir sind Helden. Aber Fahrräder bauen und reparieren, das war eben auch immer Teil seines Lebens: „Mein Großvater hatte ein Patent für eine Erfindung im Fahrradbereich und bei meinem Onkel im Geschäft habe ich Fahrradmechaniker gelernt.“ Ach ja: Ein abgeschlossenes Studium für Flugzeugbau kann er auch noch vorweisen.
Nienstedten hatte keinen Fahrradladen
Vor acht Jahren dann die Idee, sich mit einem Fahrradladen selbstständig zu machen: „Ich habe einfach auf die Karte geguckt, in welchem Stadtteil es noch kein Geschäft gibt, und das war Nienstedten.“ Der Stadtteil scheint nur auf den versierten Mechaniker und seine Werkstadt gewartet zu haben: „Es war Winter, als ich aufmachte, keiner kauft dann ein Fahrrad, aber die Leute brachten mir alles, was sie an Fahrrädern in den Kellern stehen hatten, zum Reparieren.“
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Derzeit ist Helge Jerxsen in der Reha und kämpft darum, seine rechte Körperseite wieder beweglich zu bekommen, denn: „Ich muss ja wieder kleine Achterschrauben unter klappernden Schutzblechen anfrickeln können.“ Die Therapie läuft gut an („Ich bin Musiker, ich weiß, wie man übt“) und das, sagt der „heimliche Bürgermeister von Nienstedten“, sei auch den vielen Spendern zu verdanken: „Unser Dorf ist ein gesegneter Ort. Ein Ort, an dem sich so viele warmherzige, reife Seelen versammeln. Und ich bin unendlich dankbar, Teil davon zu sein.“ Im April, so der Plan, soll der kleine Laden wieder öffnen: „Und dann“, sagt Jerxsen, und der Kloß im Hals ist wieder hörbar: „feiern wir alle ein Fest, wie bei Asterix und Obelix.“
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