• Arbeiter bei der Montage der Schleu­sen­tore in Bruns­büt­tel. 
  • Foto: Landesarchiv Schleswig-Holstein

Ein Hamburger hatte die Idee: Vor genau 125 Jahren wurde der Nord-Ostsee-Kanal eröffnet

Rund 9000 Arbeiter bewegen beim Bau des Nord-Ostsee-Kanals mit Baggern und Schaufeln 80 Millionen Kubikmeter Erde – genug, um daraus einen Asteroiden von mehr als einem halben Kilometer Durchmesser zu formen. Eine unglaubliche Kraftanstrengung. Als die künstliche, fast 100 Kilometer lange Wasserstraße vor genau 125 Jahren eingeweiht wird, ist der Kaiser stolz und viele gekrönte Häupter aus ganz Europa, die sich unter den Gästen befinden, sind beeindruckt von diesem Wunderwerk der Ingenieurskunst.

Den Traum, eine direkte Schiffsverbindung zwischen Nord- und Ostsee zu schaffen – ihn träumten Deutsche wie Dänen seit Jahrhunderten. Schnell vom einen zum anderen Meer zu kommen, das würde eine große Zeitersparnis bedeuten – und wäre vor allem viel sicherer.

Nord-Ostsee-Kanal: Bau von Brücke

Über die Rends­bur­ger Hoch­brücke überquert die Eisenbahn bis heute den Kanal. Ein Foto vom Bau aus dem Jahr 1913. 

Foto:

Landesarchiv Schleswig-Holstein

Bis 1895 mussten Kapitäne einen riesigen Umweg machen, nämlich 450 Kilometer in Richtung Norden fahren und dann durch das Skagerrak, was fast so gefährlich ist, wie Kap Hoorn zu umrunden. 6316 Schiffsunglücke mit vielen Toten wurden allein zwischen 1858 und 1885 gezählt.

Zwar ließ 1784 der dänische König Christian VII. den Eiderkanal zwischen Kiel und Rendsburg bauen, doch der reichte Ende des 19. Jahrhunderts für die inzwischen weit größer gewordenen Schiffe nicht mehr aus. Bereits 1864 – der Deutsch-Dänische Krieg hat gerade begonnen – erteilt Kanzler Otto von Bismarck den Auftrag, einen Seeweg zwischen den Meeren zu prüfen, „welchen alle Kriegs-, Handels- und Dampfschiffe gut passieren können“.

Hamburger Reeder hatte Idee für Nord-Ostsee-Kanal

Konkrete Formen nimmt die Sache aber erst an, als der Hamburger Reeder Hermann Dahlström 1878 eine Denkschrift vorlegt, in der er leidenschaftlich für den Kanal wirbt und vor allem die wirtschaftliche Bedeutung betont. Dahlström wird als Phantast verhöhnt, bekommt vom Volksmund den Spitznamen „Kanalström“ verpasst – am Ende wird er recht behalten.

Rendsburger Hochbrücke

Noch einmal die Rends­bur­ger Hoch­brücke: Die Arbeiter riskieren beim Bau ihr Leben.

Foto:

Landesarchiv Schleswig-Holstein

Anfangs stoßen Dahlström und Bismarck auf energischen Widerstand. Vor allem der einflussreiche Generalstabschef Helmuth von Moltke wettert gegen den Kanal, denn er möchte das viele Geld lieber in eine moderne Kriegsflotte investiert sehen. Doch mit einer List gelingt es Bismarck, Kaiser Wilhelm I. auf seine Seite zu ziehen: Der Eiserne Kanzler redet dem Monarchen ein, dass der Kanal von großer militärischer Bedeutung wäre – was zwar nicht stimmt, aber den 90-jährigen Regenten überzeugt, der dann sogar darauf besteht, trotz angeschlagener Gesundheit persönlich die Grundsteinlegung vorzunehmen. Unmittelbar nach der Zeremonie am 3. Juni 1887 in Kiel bekommt er hohes Fieber. Im Jahr darauf stirbt er.

Schleswig-Holstein hätte bei falscher Brechnung im Schlamm versinken können

Verantwortlich für den Bau des Kanals ist der ehrgeizige Oberbaurat Otto Baensch, dem bewusst ist, dass er mit der Konstruktion der Wasserstraße, der Brücken und Schleusen technologisches Neuland betritt. Er weiß: Hat er sich verrechnet, droht halb Schleswig-Holstein im Schlamm zu versinken. Besonders schwierig sind die Bodenverhältnisse: Im Westen Schleswig-Holsteins dominiert sumpfiges Marschland. Im Osten gibt es von der Eiszeit geformte Hügelketten, die steil zur Ostsee abfallen. An festem Felsboden, der für eine stabile Konstruktion des Kanals perfekt gewesen wäre, mangelt es. Stattdessen sind da jede Menge Sand und Lehm. Noch dazu ist das Erdreich mit großen Findlingen durchsetzt.

Saugbagger NOK

Ein moderner Saug­bag­ger pumpt Boden auf ein Spülfeld, auf­ge­nom­men etwa 1912.

Foto:

Landesarchiv Schleswig-Holstein

Im März 1888 beginnen die Bauarbeiten für den fast 100 Kilometer langen, 67 Meter breiten und neun Meter tiefen Kanal. Auf der größten Baustelle Europas sind Deutsche aus allen Teilen des Reiches anzutreffen, daneben Arbeiter aus Polen und Russland. Junge Männer aus Italien sind besonders willkommen, gelten sie doch als fleißig und geschickt und haben Erfahrung mit Großprojekten gesammelt, etwa beim Bau des Gotthard-Tunnels.

6000 Arbeitsunfälle ereignen sich beim Bau des Nord-Ostsee-Kanals

Der Arbeitsalltag ist knallhart. Tausende schuften von 5 Uhr früh bis 19 Uhr am Abend im unwegsamen Gelände. Wo der lockere Sandboden Maschinen nicht tragen kann, muss per Schaufel und Muskelkraft gegraben werden. Torf klebt pfundschwer an Stiefeln und Kleidung. 6000 Arbeitsunfälle ereignen sich, 90 Menschen werden von Steinen erschlagen, von Baggern zerquetscht, von Loren überrollt oder ertrinken.

Der Kanal verändert das Leben der Menschen, die in seiner Nähe wohnen, nachhaltig: Er verbindet zwar zwei Meere, zerschneidet aber das Land. Einerseits bringt er den Aufschwung für die Region. Andererseits zerstört er intakte Landschaften, trennt Dörfer und ihre Bewohner, manchmal Familien. Die Menschen in Sehestedt etwa kommen seit damals nur noch mittels einer Fähre auf die andere Seite ihres Ortes. 16 Fähranleger entstehen am Kanal.

Kaiser bei Eröffnung des Nordostseekanals

20. Juni 1895: Der Kaiser trifft in Kiel ein.

Foto:

Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek

Nach acht Jahren Bauzeit ist das Vorhaben 1895 fertig. Bemerkenswert aus heutiger Sicht: Die prognostizierten Baukosten von 156 Millionen Goldmark werden nicht überschritten. Zur Finanzierung führt der Kaiser die Schaumweinsteuer ein, die es – obwohl der Kanal längst abgezahlt ist – auch heute noch gibt und die weiter Jahr für Jahr mit 400 Millionen Euro den Bundesfinanzminister erfreut.

Drei Tage dauern die Feierlichkeiten zur Einweihung

Wer vor 125 Jahren bei den Feierlichkeiten zur Einweihung des Kanals dabei ist, erzählt davon sicher noch seinen Enkeln und Urenkeln, denn es handelt sich um die bis dahin größte Party in der Geschichte des Reiches. Drei Tage dauert das Zeremoniell und der Ort, an dem es beginnt, ist Hamburg.

Es herrscht Kaiserwetter, als am 19. Juni 1895 der Sonderzug Wilhelm II. im alten Dammtorbahnhof einfährt. Davor hat eine Ehrenkompanie des Infanterieregiments 76 Aufstellung genommen: Dunkelblauer Waffenrock, lange weiße Leinenhose und blank gewienerte Pickelhaube – so ausstaffiert präsentieren die Soldaten das Gewehr.

Der 36-jährige Monarch, der die weiße Uniform der Gardekürassiere mit bis über das Knie reichenden Stiefeln trägt, besucht zunächst das noch im Bau befindliche Hamburger Rathaus, wo es ein Staatsbankett gibt und wo sich Seine Majestät in einer Tischrede „tief ergriffen“ zeigt von dem überaus freundlichen Empfang. Desgleichen habe er selten erlebt, sagt er. Er ahnt nicht, dass das Beste erst noch kommt.

Kaiser Wilhelm Nord-Ostsee-Kanal

21. Juni 1895: Wilhelm II. bei der Schluss­stein­le­gung. Zur Über­ra­schung aller tauft er den Kanal „Kai­ser-Wil­helm-Ka­nal“.

Foto:

dpa

Wochen zuvor, als der Kaiser Hamburgs Bürgermeister ankündigte, er werde auf dem Weg nach Kiel in Hamburg Station machen, äußerte er den Wunsch, den Kaffee gerne „wieder auf der Alsterinsel“ einnehmen zu wollen. Damals wagte es niemand nachzufragen, welche Alsterinsel Seine Majestät denn wohl meine. Um Wilhelm II. nicht bloßzustellen, geben die Stadtväter einfach eine Insel in Auftrag.

Als das Festessen im Rathaus vorbei ist, wird der Kaiser am Abend zu dem 6000 Quadratmeter großen und auf 723 Eichenpfählen gegründeten künstlichen Eiland geführt. Darauf gibt es einen 23 Meter hohen Leuchtturm und eine künstliche Burgruine. Sogar für „feenhafte Beleuchtung“ mithilfe einer neuen Erfindung, des elektrischen Lichts, ist gesorgt.

Reeder profitieren: Schifffahrtsweg von Hamburg in die Ostsee verkürzt sich enorm

Just in dem Moment, in dem der Monarch die Insel betritt, erstrahlt sie taghell. Gleich darauf gehen die Scheinwerfer des Leuchtturms an und lassen ihre Lichtkegel über das Gewimmel unzähliger Boote auf dem Wasser bis zu den Häuserfronten des Jungfernstiegs fahren. Der Höhepunkt: ein Feuerwerk. Von einem Pavillon aus, dessen Dach mit einem umkränzten und gekrönten „W“ verziert ist, schaut der Kaiser Kaffee trinkend zu, wie ein feuriger Wasserfall von der Lombardsbrücke in die Alster stürzt und sich zwei scheinbar aus dem Wasser ragende Forts gegenseitig mit Blitz und Donner befeuern.

165.000 Goldmark hat die kaiserliche Stippvisite inklusive Insel gekostet. Aber das zahlen Hamburgs Reeder gerne, denn sie können ihr Glück kaum fassen, wissen sie doch genau, dass vom neuen Nord-Ostsee-Kanal niemand so sehr profitieren wird wie sie. Der Schifffahrtsweg von Hamburg in die Ostsee verkürzt sich enorm, und zwar noch viel deutlicher als für die Bremer oder die Wilhelmshavener.

Schon am nächsten Morgen nimmt die Staatsyacht „Hohenzollern“ mit Wilhelm II. an Bord Kurs auf Brunsbüttel, um dann weiter durch den Kanal bis nach Kiel zu fahren, wo am 20. und 21. Juni die Einweihung erfolgt. Der Festplatz im Stadtteil Holtenau ist mit Girlanden und Fahnen geschmückt. 5000 Gäste nehmen auf den beiden Tribünen Platz. Soldaten in historischen Uniformen stehen Spalier. Dann schreitet Wilhelm II. zur Tat, legt den Schlussstein und überrascht die Anwesenden damit, dass er die neue Wasserstraße nicht wie abgesprochen Nord-Ostsee-, sondern „Kaiser-Wilhelm-Kanal“ tauft – nach seinem Großvater und ein bisschen auch nach sich selbst.

Erst seit 1948 trägt der Kanal den Namen, den er von Anfang an haben sollte. Dafür sorgen die Alliierten. In 125 Jahren wird die Wasserstraße mehrfach um- und ausgebaut. Der „NOK“, wie manche den Kanal kurz nennen, ist immer noch der meistbefahrene der Welt. Jedes Jahr passieren ihn 30.000 Schiffe, statistisch also 83 täglich. Fast doppelt so viele, wie durch den Suezkanal fahren. 

Soeben erschienen: Nord-Ostsee-Kanal – Biografie einer Wasserstraße“ von Dietrich Duppel und Martin Krieger, 192 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-529-05045-9, Wachholtz-Verlag Kiel

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