Ein Jahr nach Amoklauf: So geht es den Überlebenden heute
Ein Mann dringt in ein Hamburger Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas ein und schießt mehr als 100 Mal. Er tötet sieben Menschen und sich selbst. Wie geht die Gemeinde mit dem Jahrestag des Amoklaufs um?
Ein Jahr nach dem Amoklauf bei den Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf kämpft die Gemeinde noch immer mit den Folgen der Tat. „Jetzt, wo der Jahrestag näher rückt, ist das für alle zunächst auch ein bedrückendes Ereignis“, sagt der Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland, Michael Tsifidaris. Auch die Traumata kehrten zurück.
Die allermeisten der Überlebenden seien noch in therapeutischer Behandlung. Er sagt zugleich: „Wir sind froh, dass die Verletzten ungefähr sechs Wochen nach dem Tatgeschehen die Krankenhäuser verlassen konnten.“ Aber es werde auch physische Langzeitfolgen geben.
Hamburg: Amoktäter war zunächst unschlüssig
Am 9. März vergangenen Jahres hatte sich die Gemeinde aus dem benachbarten Stadtteil Winterhude wie jeden Donnerstagabend zu einem Gottesdienst in ihrem unscheinbaren Gemeindezentrum an der viel befahrenen Straße Deelböge versammelt.
Philipp F., ein ehemaliges Mitglied der Gemeinde, wusste das. Bereits kurz vor 19.00 Uhr trifft er dort ein, ist aber zunächst wohl unschlüssig, wie der stellvertretende Leiter des Staatsschutzes, Uwe Stockmann, später vor dem Innenausschuss der Bürgerschaft berichtet. Der 35-Jährige geht hin und her, Mitarbeiter einer benachbarten Tankstelle fragen ihn, ob sie ihm helfen können. „Mir kann man nicht mehr helfen“, soll Philipp F. geantwortet haben.
Philipp F. erschießt sieben Menschen und sich selbst
Gegen 21.00 Uhr greift Philipp F. zur Waffe. Auf dem Parkplatz neben dem Gebäude schießt er aus zwei Metern Entfernung neunmal auf ein Auto, mit dem eine Teilnehmerin der Versammlung wegfahren will. Sie wirft sich zur Seite und kann leicht verletzt davonfahren, während Philipp F. auf eine Person hinter einem Fenster schießt. Später findet die Polizei acht leere Magazine für jeweils 15 Schuss vor der Fensterfront.
Dann steigt er durch ein Seitenfenster in das Haus ein und feuert mit seiner halbautomatischen Pistole vom Typ Heckler & Koch P30L auf die Gemeindemitglieder, wie Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich berichtet. Er tötet sieben Menschen – darunter ein ungeborenes Kind. Anschließend bringt er sich selbst um. Elf Menschen werden bei der Amoktat nach Angaben der Staatsanwaltschaft verletzt.
Zeugen Jehovas: Kein Wimmern, keine Hilferufe
Nur sechs Minuten nach dem ersten Notruf ist eine Unterstützungsstreife der Polizei für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Tatort. Der Leiter dieser Einheit, Lars Eggers, schildert die Lage beim Betreten des Gebäudes so: „Am Ende des Flures befand sich eine geschlossene Glastür, dahinter war alles dunkel. Auffällig auch hier wie schon während des gesamten Einsatzes in dem Gebäude, dass es sehr ruhig, fast still war, keine Hilferufe, kein Wimmern, keine Schreie.“
Die Beamten können sehen, dass hinter der Glastür mehrere Menschen auf dem Boden liegen. Sie betreten den Raum, leuchten ihn mit dem Licht ihrer Waffen aus und überprüfen die Menschen. „Dabei mussten sie feststellen, dass Personen zum Teil mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen aufwiesen, tot waren oder schwer verletzt waren oder einfach nur geschockt und apathisch. Zum Teil lagen noch lebende Personen unter verstorbenen.“
Täter schießt durch Toilettentür
Sie waren erst wenige Minuten tot. Einige starben offenbar in dem Moment, als sie die Polizei um Hilfe baten. „In dieser Situation haben Kollegen etwas erleben müssen, das sie in ihrer beruflichen Vergangenheit so noch nicht erlebt haben“, sagte der stellvertretende Leiter der Hamburger Schutzpolizei, Timo Zill, vor dem Ausschuss. „Es war tatsächlich so, dass, während man sprach, während man versuchte, weitere Informationen zu bekommen – wer schießt dort, sind es mehrere Personen –, plötzlich Anrufer offensichtlich am Telefon erschossen wurden.“
Rund zehn Minuten sind die Gemeindemitglieder dem Amoktäter ausgeliefert. Mit einem Bauchschuss flüchtet sich eine Person in eine Toilette, in der sich schon andere Gemeindemitglieder versteckt haben. Philipp F. folgt dem Flüchtenden und schießt zweimal durch die geschlossene Toilettentür. Der Verletzte wird ein weiteres Mal getroffen, ein Schuss schlägt über seinem Kopf in der Wand ein, wie Stockmann sagt. Dann bemerkt der Amoktäter offenbar, dass Polizisten vor dem Gebäude stehen. Er geht ins Obergeschoss und tötet sich durch einen aufgesetzten Schuss in die Brust.
Sprecher: Gemeinde reagiert mit Liebe
Tsifidaris, der mehrere Opfer gut kannte, sagt über das Verhalten der 36 Zeugen Jehovas, die an jenem Abend anwesend waren: „Diese Gemeinde hat im Anblick dieses Hasses genau das Gegenteil getan, sie haben mit Liebe reagiert, sind füreinander eingestanden, haben sich gemeinsam versteckt, sich gegenseitig in Deckung gezogen.“ Einer der Seelsorger – wie die Gemeindeältesten genannt werden – habe versucht, das Licht auszuschalten und dabei wohl sein Leben verloren. Der andere habe mit seinem Körper Gemeindemitglieder geschützt. Man habe zwei Überlebende unter seinem toten Körper geborgen.
„Ein solches Verbrechen haben wir in Hamburg bisher noch nicht erlebt“, sagt Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) später auf einer offiziellen Trauerfeier der Gemeinde. Deutschlandweit und darüber hinaus zeigen sich Menschen betroffen und äußern ihre Anteilnahme. Die Unterstützung halte unvermindert an, und das gebe auch Kraft, sagt Tsifidaris.
„Wir suchen keinen Sinn in einer sinnlosen Tat“
Wie verarbeitet eine tief gläubige Gemeinde eine solche Katastrophe? Der Zeugen-Jehovas-Sprecher findet es beeindruckend, dass die Einzelnen sich weniger mit der Schuldfrage beschäftigten, sondern mehr mit der Frage, wer ihnen geholfen habe. Sie hätten sich dafür entschieden, in Dankbarkeit nach vorn zu blicken. Die Polizisten hätten für sie ihr Leben riskiert. Das seien mutige Männer gewesen, die in jener Nacht relativ schlecht geschützt das Ganze beendet hätten, erklärt Tsifidaris.
Medien beleuchteten nach dem Amoklauf auch kritisch den Glauben und die Strukturen der Zeugen Jehovas. Dabei seien Vorurteile und Ressentiments gefördert wurden, sagt Tsifidaris. Er spricht von einer Täter-Opfer-Umkehr. Die Hasskriminalität gegen die Zeugen Jehovas habe deutschlandweit dramatisch zugenommen. Die Frage, inwieweit Philipp F. von der Religionsgemeinschaft geprägt war, was möglicherweise zu seiner psychischen Erkrankung beigetragen haben könnte, wehrt Tsifidaris ab. „Wir suchen keinen Sinn in einer sinnlosen Tat“, sagt er. „Die Frage, wie viel von dieser Tat war Hass und vorsätzliches Handeln und wie viel davon war Krankheit und Wahn – diese Entscheidung und Bewertung legen wir in die Hand der ermittelnden Behörden, Ärzte und auch in die Hand Gottes.“
Philipp F. war psychisch krank
Doch wie konnte es zu der Tat kommen? Der aus Memmingen (Bayern) stammende Philipp F. war nach Angaben seines Vaters 2019 psychisch erkrankt und hatte sich zeitweise in Behandlung gegeben. Dann habe er sich selbst heilen wollen. Der Vater habe den Sozialpsychiatrischen Dienst angerufen und gesagt, dass sein Sohn Stimmen höre und sich umbringen wolle, berichtete der Leiter des Hamburger Landeskriminalamts, Jan Hieber, vor dem Innenausschuss. Nach einem Gespräch mit dem Sohn seien jedoch keine weiteren Maßnahmen für nötig befunden worden.
In Hamburg trat Philipp F. einem Schießverein bei und bekam im Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte. Die Waffenbehörde der Polizei erhielt am 24. Januar 2023 ein anonymes Schreiben, in dem vor dem 35-Jährigen gewarnt wurde. Wie Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich vor dem Innenausschuss berichtete, soll sich ein Beschäftigter des Schießvereins an einen Mitarbeiter der Waffenbehörde gewandt haben.
Dieser soll die Informationen aber nicht ordnungsgemäß dokumentiert, sondern dem Hinweisgeber geraten haben, seine Bedenken gegen Philipp F. in einem offenen oder anonymen Schreiben an die Waffenbehörde zu äußern. Die Waffenbehörde habe darum nicht angemessen reagieren können, indem sie etwa die Pistole von Philipp F. sicherstellte.
Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Waffenbehörde
Gegen den Mitarbeiter der Waffenbehörde, der die Informationen über den späteren Amokschützen nicht ordnungsgemäß weitergegeben haben soll, ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft nach wie vor wegen fahrlässiger Tötung in sechs Fällen und fahrlässiger Körperverletzung im Amt in elf Fällen.
Die Ermittlungen gegen drei Mitglieder eines Prüfungsausschusses im Schießverein wurden dagegen Mitte Februar wegen geringer Schuld eingestellt. Sie sollen Fehler bei der Beurkundung der Sachkundeprüfung von Philipp F. gemacht haben.
„Richtiger Hass gegen christliche Religionsgruppen“
Philipp F. veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und den Satan“. Der Extremismus-Experte Prof. Peter Neumann vom King’s College London begutachtete es im Auftrag des Landeskriminalamts Hamburg. Der Amoktäter habe kein geschlossen extremistisches Weltbild gehabt, sagte Neumann dem Innenausschuss. Sein Buch sei ein vorrangig religiöser Text. Philipp F. argumentiere darin, dass christliche Religionsgruppen aus Macht- und Profitgier den Menschen die Wahrheit vorenthielten.
„Da ist ein richtiger, richtiger Hass gegen christliche Religionsgruppen drin“, sagte der Gutachter. Darin liege wahrscheinlich die stärkste und plausibelste Erklärung für das Tatmotiv. Philipp F. erwähne jedoch die Zeugen Jehovas gar nicht, und es finde sich auch kein expliziter Aufruf zu Gewalt. Wenn er das Buch vor dem Amoklauf gelesen hätte, hätte er nicht geahnt, dass Philipp F. diese schreckliche Tat ausführen würde.
Der psychiatrische Gutachter Christoph Lenk kam zu dem Ergebnis, dass der Täter sehr wahrscheinlich an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, vorwiegend mit narzisstischen Anteilen, litt. In einem anonymen Hinweis sei von einer Schizophrenie die Rede gewesen. Lenk kommt gleichwohl zu dem Ergebnis: „Aus dem Inhalt des Buches, so krude er auch sein mag, lässt sich keine Gefährlichkeit des Probanden ableiten.“
Kein Gedenkort und keine öffentliche Gedenkfeier
Die Gemeinde sucht Halt in ihrem Glauben. Der erste Gottesdienst nach dem Anschlag habe drei Tage später stattgefunden, sagt Tsifidaris. Nahezu alle rund 80 aktiven Mitglieder hätten teilgenommen. Einige hätten sich vom Krankenbett zugeschaltet. Die Polizei hatte empfohlen, dass man sich aus Sicherheitsgründen noch nicht in Präsenz trifft. Doch schon in der Folgewoche sei der erste Gottesdienst in einem Gemeindezentrum gefeiert worden, allerdings nicht an der Deelböge. Die Gemeinde werde diesen Königreichssaal – wie die Zeugen Jehovas ihre Gemeindezentren nennen – nicht mehr nutzen, sagt Tsifidaris.
Vor dem Eingang an der Deelböge sind noch immer geflochtene Herzen, ein Plüschtier und Botschaften der Anteilnahme zu sehen. „Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern der Gott Jehova“, heißt es in einer der Botschaften. Einen anderen Gedenkort für die Opfer gibt es nicht. Die Zeugen Jehovas klammerten sich nicht an ein bestimmtes Ritual, erklärt Tsifidaris. Er schließt aber nicht aus, dass es in diesem schrecklichen Fall künftig doch einen Ort des gemeinsamen Erinnerns geben könnte.
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Gleichwohl wird es zum Jahrestag eine kleine Gedenkfeier geben. Diese werde in einem gottesdienstlichen Rahmen stattfinden, für die Gemeinde, die unmittelbar Betroffenen und deren Angehörige. Auch die Stadt Hamburg werde vertreten sein. Die Veranstaltung sei jedoch nicht öffentlich und werde nicht medial begleitet, erklärt der Sprecher. (mit vd)