Ein Jahr nach den Hanau-Morden: „Die Politik ist auf dem rechten Auge blind“
Ein Jahr liegt sie zurück: Diese unfassbare Tat, die Hanau und den Rest der Republik erschütterte. Am 19. Februar 2020 ermordete der 43-jährige Tobias R. zehn Menschen. Er feuerte auf Personen mit Migrationshintergrund, fuhr danach nach Hause, wo er seine Mutter und sich selbst erschoss. Heute wird es in Hamburg Kundgebungen geben – verbunden mit der Forderung, mehr gegen Rechtsterror zu tun.
Wir treffen Faruk Arslan, der weiß, was Nazi-Terror bedeutet: 1992 starben in Mölln bei einem Brandanschlag seine zehnjährige Tochter Yeliz, seine Mutter Bahide und seine Nichte Ayse – es war der erste rassistische Mord im wiedervereinten Deutschland.
Die Täter riefen die Feuerwehr: „Es brennt, Heil Hitler!“
Durch ein Wunder überlebte sein Sohn Ibrahim, weil die Oma den damals Siebenjährigen in nasse Tücher gewickelt hatte. Die Mörder riefen nach der Tat die Feuerwehr mit den Worten: „Es brennt, Heil Hitler!“
Seit damals ist der Kampf gegen Rassismus der Lebensinhalt von Faruk Arslan (55). Deshalb lässt er es sich auch nicht nehmen, heute in Hamburg mit dabei zu sein.
„Der Kampf gegen Rechts wird nicht ernsthaft genug betrieben“
Ob sich was zum Besseren geändert habe in puncto Rassismus, seit vor 29 Jahren seine Liebsten umkamen? „Eigentlich nicht. Der Rechtsextremismus in Gestalt der AfD hat es inzwischen bis ganz nach oben geschafft, Rassismus ist alltäglich geworden und der Kampf gegen Rechts wird nicht ernsthaft genug betrieben.” Es gebe zu viele offene Fragen: „Wir wissen bis heute nicht, wer beim Terror der NSU noch mitspielte, welche Rolle die Geheimdienste hatten.”
Aber Arslan will weitermachen: „Wir werden keine Ruhe geben, bis der Rassismus getilgt ist, bis wir endlich alle friedlich zusammenleben können, bis wir ein buntes Land sind. Und kein schwarzes.“
Der Anschlag von Hanau vor einem Jahr wurde als rechtsextremer Terrorakt eingestuft, aber psychisch gestört war der Täter auch. Von der Erkrankung wussten die Behörden, gestatteten ihm aber seit 2002 legal Waffen zu führen. Arslan versteht das nicht: „Wir wollen wissen, wie das möglich war. Aber leider kriegen wir auch diesmal keine Antworten auf unsere Fragen.“
„Die Politik ist auf dem rechten Auge blind“
Auch Yavuz Fersoglu vom Bündnis „Solidarität von Hamburg nach Hanau“, das zu den heutigen Kundgebungen aufruft, klagt an: „Der NSU, der Anschlag von Halle, der Mord an Walter Lübcke und der Terroranschlag in Hanau sind das Ergebnis einer staatlichen Politik, die auf dem rechten Auge blind ist. Die politische Rhetorik der AfD und ihre Verharmlosung in Medien und Politiklandschaft bereiten den Nährboden für rechten Terror.“
Kim Uhrig vom Vorbereitungskreis der heutigen Kundgebungen beklagt, dass „auch in Hamburg regelmäßig Menschen auf offener Straße aus rassistischen oder antisemitischen Motiven angegriffen“ werden.
„Politische Dimension von Taten wird relativiert“
Uhrig weiter: „Politische Dimensionen werden von den Behörden jedoch relativiert – wie beispielsweise im laufenden Prozess zum antisemitischen Anschlag vor der Synagoge Hohe Weide.“ Uhrig ist der Meinung: „Rassismus, Antisemitismus und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit müssen endlich als rechter Terror verstanden werden.“
Drei Solidaritäts-Kundgebungen für Hanau finden heute in Hamburg ab 17 Uhr parallel statt. Das Motto lautet: „Wir klagen an und fordern Taten statt Worte: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen!“ Audiobeiträge von Hinterbliebenen rassistischer Anschläge werden eingespielt: einer von Gülüstan Ayaz (58), der Witwe des 1985 am Landwehr-Bahnhof erschlagenen Ramazan Avci, und einer von Angehörigen Semra Ertans, die sich 1982 aus Protest gegen Rassismus auf St. Pauli verbrannte. Auch Hinterbliebene einiger Hanauer Opfer werden sich über Audiobeiträge an die Versammelten wenden.
Hier finden heute Gedenkkundgebungen statt: Arrivati Park/Feldstraße, Rindermarkthalle/Feldstraße und Feldstraße/Glashüttenstraße. Mund-Nasen-Schutz muss getragen, die Abstandsregeln müssen eingehalten werden.