Fingerabdrücke, Tatort-Fotos, Karteien: Er revolutionierte Hamburgs Polizei
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Fingerabdrücke von Verdächtigen zu nehmen, Verbrecherkarteien anzulegen und Tatorte fotografisch zu dokumentieren – heutzutage Alltag bei der Kriminalpolizei. Als Gustav Roscher 1893 Kripo-Chef wurde, führte er als Erster solche erkennungsdienstlichen Methoden ein und revolutionierte die Polizeiarbeit. Dank dieses genialen Kriminalisten gehörte Hamburgs Kripo vor rund 120 Jahren zu den modernsten der Welt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann Hamburgs großer Boom. Die Bevölkerung wuchs explosionsartig. Klar, dass unter den vielen Glücksrittern, die in der Hansestadt strandeten, auch viele Kriminelle waren: Diebstähle, Raubüberfälle und Morde gehörten zum Alltag. Die Hansestadt galt neben Berlin als Hochburg der Kriminalität in Deutschland. Und die Polizei? Sie war damit völlig überfordert.
Hamburg: Kritik an Behörden nach Ausbruch der Cholera
Erst nach dem Choleraausbruch 1892 änderte sich das: Bei der Epidemie, die mehr als 8000 Menschenleben kostete, versagten Hamburgs Behörden auf ganzer Linie, sodass der Ruf nach Reformen immer lauter wurde: Das schloss auch die Polizei ein. Um sie moderner und schlagkräftiger aufzustellen, trug der Senat dem Juristen Gustav Roscher die Leitung der Kripo an – eine glänzende Wahl.
1852 war Roscher als Sohn eines Arztes in Elze bei Hannover auf die Welt gekommen. 1879 bestand der Jurist das Gerichtsassessor-Examen und war dann längere Zeit als Staatsanwalt am Landgericht Essen tätig. In dieser Zeit schloss er Freundschaft mit dem Stahl-Industriellen Friedrich Alfred Krupp. In dessen „Villa Hügel“ war er häufig zu Gast.
1893 krempelte der neue Kripo-Chef die Polizei um
1889 wechselte Roscher zur Hamburger Staatsanwaltschaft, wo er sich durch Durchsetzungs- und Innovationskraft für höhere Aufgaben empfahl: Nachdem er am 16. Januar 1893 das Amt des Kripo-Chefs angetreten hatte, begann er sofort damit, den Apparat völlig umzukrempeln. Eine seiner Maßnahmen: Er führte das Telefon ein und sorgte so dafür, dass die Wachen in der Stadt schnell mit der Polizeizentrale im Stadthaus in Verbindung treten konnten, wo die Kripo ihren Sitz hatte.
Kern von Roschers Reformen war der Aufbau eines Erkennungsdienstes: Er schuf ein einheitliches „Generalkartenregister“, in dem alle, die mal mit der Polizei zu tun hatten, erfasst wurden. Schon nach sechs Jahren enthielt das Verzeichnis die Daten von 190 000 potenziellen Verbrechern.
Der Kripo-Chef ließ Karteien mit Spitznamen führen
Daneben ließ Roscher Spezialkarteien für Tätowierungen, Narben, Handschriften, ja sogar für Spitznamen führen. Hatte ein Zeuge mitbekommen, dass ein Täter von seinem Komplizen „Amerikaner Otto“ oder „Zigeuner-Lalli“ gerufen wurde (beide Spitznamen existierten tatsächlich!), mussten die Beamten nur in die Kartei schauen und wussten sofort, um wen es sich handelte.
Roscher baute die Photographische Anstalt der Polizei aus und sorgte dafür, dass Täter, Tatorte, Leichen, ja sogar Handschriften fotografiert wurden. Um 1900 kam Hamburgs Verbrecheralbum bereits auf 87 Bände und enthielt 31.200 Fotografien. Als Roscher 1903 auch noch das Fingerabdruck-Verfahren einführte, war Hamburgs Kripo endgültig auf dem höchsten Stand der Kriminalistik angekommen.
Gustav Roscher wurde der erste Polizeipräsident Hamburgs
Roscher, der bis dahin die Kripo und Politische Polizei geführt hatte, übernahm im Jahr 1900 die Leitung der gesamten Hamburger Polizei. 1912 wurde er zum Polizeipräsidenten befördert und war damit der Erste in der Stadt, der diesen Titel bekleidete. Im selben Jahr erschien Roschers Buch „Großstadtpolizei“, das zum Standardwerk der Kriminalistik avancierte und seinen Verfasser zur lebenden Legende machte.
Unter Roschers Führung löste die Kripo etliche spektakuläre Kriminalfälle. Darunter den fünffache Kindesmord, der auf das Konto der Hebamme Elisabeth Wiese ging, die dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde: Fünf Neugeborene, die ihr von den leiblichen Müttern zur Pflege anvertraut worden waren, hatte die „Engelmacherin von St. Pauli“ getötet und in ihrem Kohleofen verbrannt – aus purer Habgier.
Gustav Roscher hatte auch „Anarchisten“ im Visier
Außer Mördern, Betrügern, Einbrechern und Dieben galt Roschers Hauptaugenmerk den sogenannten „Anarchisten“: politische Gewalttäter, die damals durch spektakuläre Mordanschläge von sich reden machten und vor allem die Repräsentanten des Staates in Angst und Schrecken versetzten. 1898 hatte der italienische Anarchist Luigi Lucheni Kaiserin Elisabeth von Österreich („Sissi“) ermordet. Bereits 1894 war der französische Präsident Marie François Sadi Carnot erschossen worden.
Weil Roscher auch in Hamburg mit linken Umsturzversuchen und Attentaten rechnete, gründete er eine Truppe von Polizeibeamten, die sich als Arbeiter verkleidet in den Hafenkneipen herumtrieben, den Gesprächen lauschten und darüber Protokolle anlegten – über die Jahre insgesamt 20.000. Außerdem ließ Roscher ein sogenanntes Anarchistenalbum anlegen mit Fotos und persönlichen Angaben von 400 bekannten politischen Aktivisten aus ganz Europa. Die Mühe lohnte sich: Hamburgs Politische Polizei bekam 1897 mit, dass italienische Attentäter am Hannoverschen Bahnhof einen Sprengstoffanschlag auf das Kaiserpaar planten. Die Tat wurde vereitelt.
Gustav Roscher, der Mann, der Hamburgs Polizei in die Moderne führte, starb Heiligabend 1915 nach kurzer schwerer Krankheit. Er wurde 63 Jahre alt.
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