Symbolbild schule
  • Anständige Schüler gehen unter, werden zu Opfern von Gewalt, Erpressung und Mobbing (Symbolfoto).
  • Foto: imago images

Gewalt, Mobbing, verzweifelte Lehrer: Unsere Schulen kollabieren – eine Abrechnung

Die Autorin dieses Textes ist seit mehr als zwei Jahrzehnten Lehrerin an einer Hamburger Stadtteilschule in einem sogenannten Brennpunktviertel. Normaler Unterricht sei dort kaum noch möglich, sagt sie: „Klassenlehrer:in zu sein bedeutet heute, sich bedrohen zu lassen, beleidigt, verachtet und belogen zu werden.“ Sie möchte anonym bleiben.

8.00 Uhr in einer Stadtteilschule in einem Problemviertel Hamburgs: In der Klasse sind 16 Stühle besetzt. Einige Kinder sind nur mit einem Stift in der Hosentasche zur Schule gekommen. Brotdose, Trinkflasche? Fehlanzeige. Alle drei Minuten klopft es, Schüler kommen in den Raum geschlendert, stören durch ihr Zuspätkommen, geben kein Wort der Erklärung ab, lassen sich feiern, dass sie da sind. Unterrichten: nicht möglich. Und das ist nur der Anfang.

25 Kinder sind in der Klasse. 23 ist die Vorgabe, doch es fehlen Plätze in Hamburg. Sechs Kinder haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf, vier wäre die Vorgabe. Anzahl der Kinder in dieser Klasse mit einer Gymnasialempfehlung Ende der vierten Klassen? Null.

Viele Kinder können sich kaum noch konzentrieren

Irgendwann kann unterrichtet werden. Kaum jemand macht mit – es ist wohl gestern Abend wieder sehr spät geworden am Handy. Eltern, die Bildschirmzeit kontrollieren? Selten.

Arbeitsmaterial wird verteilt. Thema: natürliche Zahlen. Eine Schülerin wird wegen einer geistigen Behinderung von einer Schulbegleiterin unterstützt. Ausgebildet ist sie hierfür nicht. Ist sie mal krank, wird es schwierig. Denn es gibt viele Kinder, die besondere Aufmerksamkeit und Betreuung benötigen. Und das nicht nur im Unterricht.

Schläge, Drohungen, Erpressung: Gewalt nimmt stark zu

Der Lärmpegel ist jetzt, in der zweiten Stunde, hoch. Die Konzentrationsspanne vieler Kinder liegt bei etwa 15 Minuten. Zwei Schüler arbeiten immer noch nicht. Sie diskutieren trotz Ermahnungen. Plötzlich springt einer auf, versetzt dem zweiten einen Schlag und rennt raus. Der zweite hinterher, Prügelei auf dem Flur. Durch den Lärm wird ein Kollege im Nachbarraum aufmerksam, springt dazwischen, bekommt einen Fußtritt ab, schafft es aber, die beiden auseinander zu bringen.

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Die Jungs werden zur Abteilungsleitung gebracht. Diese führt gerade ein Personalgespräch mit einer Kollegin, die weinend ihren Unterricht verlassen hat. Dass es ihr nicht gut geht, hat die Abteilungsleitung schon vor einigen Wochen bemerkt. Die Krankmeldungen der Kollegin wurden immer häufiger, das Gesicht immer blasser. Insbesondere an den langen Tagen, an denen sie in Jahrgang 8 von 14.30 bis 16 Uhr noch eine Doppelstunde Englisch hat, häufen sich die Krankmeldungen. Die Abteilungsleitung muss jetzt entscheiden, was wichtiger ist: Prügelnde Jungs oder die Kollegin. Sie entscheidet sich für die Kollegin, geht kurz raus, suspendiert die Jungs vom Unterricht und lässt sie von den Eltern abholen. Schreibt noch kurz eine Mail an die zuständige Klassenleitung und widmet sich dann wieder der Kollegin.

Junge Lehrer brechen schon nach kurzer Zeit zusammen – Burnout

Nach dem Gespräch hält die weinende Kollegin noch 1 ½ Wochen durch. Danach ist sie sechs Monate krank. Diagnose: Burnout. Und das nach vier Jahren Schuldienst. Nur langsam findet sie zurück in den Berufsalltag, reduziert ihre Stunden und somit ihr Gehalt und die spätere Pension. Aber: Gesundheit geht vor. Und Schule macht krank. Oft sehr krank.

Später dann wird sie einen Versetzungsantrag stellen. Raus aus dem sozialen Brennpunkt. Der aber wird nicht genehmigt. Es fehlen Lehrer:innen in diesen Schulen, wo schon im Elternhaus nicht mehr erzogen wird, Kindern keine Grenzen gesetzt werden und die Kriminalitätsrate seit dem Ende der Coronapandemie erschreckend ansteigt.

Gespräche mit überforderten Kolleg:innen sind für die Abteilungsleitung an der Tagesordnung. Oft sind es die jungen, hochmotivierten, die frisch aus dem Referendariat kommen und nach einem halben Jahr Schule schon am Ende sind, an sich und ihren Fähigkeiten zweifeln, Alternativen suchen, krank werden – tageweise oder auch viele Wochen. Oder auch ganz aussteigen.

Als Lehrer wird man von Eltern bepöbelt und bedroht

Das Aufgabenspektrum von Lehrer:innen, egal in welcher Position, hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Klassenleitung zu sein bedeutet heute nicht nur die Vermittlung von Wissen, das Einsammeln von Geldern oder die Organisation eines Klassentages. Heutzutage müssen Klassenlehrer:innen Allroundtalente sein, mit Nerven aus Stahl, einem imaginären Schutzanzug, um sich von den Beleidigungen der Kinder und zum Teil auch der Eltern nicht demotivieren zu lassen, viel Geduld und der Überzeugung, dass sich ihr Einsatz lohnt. Und sie brauchen (Ehe)-Partner:innen, die das alles mitmachen und immer wieder zuhören können, motivieren und aufbauen.

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Da wird schon mal abends um 21.30 Uhr die Klassenleitung noch von aufgebrachten Eltern angerufen, gepöbelt und beleidigt. Oder gedroht. Schließlich geht es um das eigene Kind, welches zwar geschlagen hat, sich aber doch nur verteidigen wollte. Das zu Hause ganz anders ist als in der Schule! Schließlich sei das doch nur eine kleine Rauferei unter Jungs gewesen (zwar nicht die erste, aber naja!). Weist man als Lehrer:in die Eltern nach einer Anfeindung freundlich in ihre Schranken und erinnert an den guten Umgangston, kommt gerne mal eine Dienstaufsichtsbeschwerde um die Ecke.

Eltern sprechen kein Deutsch, ignorieren Termine oder akzeptieren Frauen nicht

Schwierige Elterngespräche sind an der Tagesordnung. Und das nicht nur, weil diese sich so manches Mal übergriffig verhalten. Nein, schwierig auch, weil Eltern, obwohl sie bereits seit vielen Jahren in Deutschland leben, außer „Guten Tag“ kaum Deutsch sprechen. Die zur Begrüßung nicht mehr die Hand gegeben, wenn es sich um eine weibliche Klassenleitung handelt. Die das deutsche Bildungssystem nicht verstehen oder akzeptieren wollen. Die Schule zahlt dann die benötigten Dolmetscher und Kulturvermittler – auch, wenn die Eltern mal wieder unentschuldigt vom Elterngespräch fernbleiben.

Klassenlehrer:in zu sein bedeutet heute, sich bedrohen zu lassen, beleidigt, verachtet und belogen zu werden. Viele Kollegen sind erst kurz im Schuldienst. Sie glauben noch an das Gute, wollen Schule weiterentwickeln, haben Ideen, sind kreativ. Sind zugewandt, hilfsbereit. Ständig über dem Soll. Unterrichtsvorbereitungen bis spät in den Abend. Fortbildungen am Wochenende. Elterntelefonate am Abend. Fachberatungen mit dem Jungendamt. Das belastet psychisch!

Die Schicksale mancher Kinder sind kaum auszuhalten

Regelmäßige Zusammenarbeit mit der Polizei. Kinder mit Förderbedarfen in der Klasse, für die man nicht ausgebildet ist. Traumatisierte Kinder mit Fluchthintergrund. Darauf wird im Studium auch nicht vorbereitet. Wer da nicht auf sich aufpasst, ist irgendwann selbst Co-traumatisiert. Die Schicksale einiger Kinder sind manchmal kaum auszuhalten.

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Alle verlangen, dass Kinder bestmöglich gebildet und erzogen werden. In überfüllten Klassen, mit einem zu hohen Anteil an Kindern mit Förderbedarfen, Fluchthintergründen und Migrationshintergrund. Mit zu vielen Kindern aus Elternhäusern, in denen während und nach der Coronapandemie einiges schief läuft. Nicht nur, dass die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder 2 Jahre hinterherhinkt, einige der Schüler:innen eine Sozialphobie entwickelt haben und gar nicht mehr in die Schule kommen können, weil sie Angst vielen Menschen haben.

Da müssen dann Klassenleitungen Kindeswohlgefährdungsanzeigen schreiben, sich an Polizei und Jugendamt wenden, weil die Hände der Eltern deutliche Spuren auf dem Körper ihres Kindes hinterlassen haben. Oder der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, dass das Kind missbraucht wird. Willkommen im Jahr 2023 in der Hamburger Schullandschaft.

Kindern fehlen die einfachsten Grundlagen – sie sind übergriffig und respektlos

Auch die Schulpflicht wird in Teilen eher lax interpretiert. Sei es, weil die Flüge ein paar Tage vor den Ferien deutlich günstiger sind, oder weil Bildung allgemein für Mädchen nicht für so erstrebenswert gehalten wird. Warum soll denn die Tochter Abitur machen, wenn doch klar ist, dass sie nach der Schule im Herkunftsland der Familie verheiratet wird?

Auch erziehen sollen wir die Kinder am besten. Regeln und Rituale im Elternhaus? Das ist vielen oft zu anstrengend. Da müsste man sich ja mit seinem Kind auseinandersetzen, Grenzen setzen. Den Kindern fehlen die einfachsten Grundlagen. Sie können Regeln nicht einhalten, sind übergriffig und respektlos gegenüber Schulpersonal und Mitschülern.

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Während es bei den Jungs wieder zurück zu den Fäusten geht, zu Gruppenbildung und körperlicher Gewalt, zu Erpressung und Waffen, geht es bei den Mädchen eher um Cybermobbing. Da werden Morddrohungen bei Tiktok ausgesprochen oder Lehrer:innen der Tod gewünscht. Da werden heimlich Fotos unter der Toilettentür geschossen und dann verbreitet. Und auch Rassismus ist wieder stark im Kommen: das eine Mädchen ist zu schwarz, das andere nicht schwarz genug, um dazuzugehören.

Die Opfer der Gewalt werden krank, trauen sich nicht mehr in die Schule

Kommen wir zurück zu den Jungs, die aufgrund der Schlägerei von der Abteilungsleitung suspendiert wurde. Es war nicht das erste Mal, sie sind der Polizei auch bereits bekannt, aber noch nicht 14 Jahre alt. Die Schule hat alles versucht, ihnen beizubringen, dass Gewalt keine Argumente ersetzt, dass man keine Waffen mit in die Schule bringt, dass man andere Menschen nicht erpresst, bedroht, schlägt. Dass es Grundrechte gibt. Dass Werte, Normen, Anstand und Moral höchste Güter in unserer multikulturellen Gesellschaft sind.

In Gesprächen sind die Täter (zumeist sind es Jungs) manchmal einsichtig. Bis zum nächsten Vorfall. Wobei das Gesetz der Straße, nämlich Selbstjustiz, wieder populär zu werden scheint. Da wird geschlagen, getreten, abgezogen, bedroht. In der Schule, auf dem Schulhof, auf dem Schulweg. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, dass einem Angst und Bange wird.

Angst und Bange wird es auch den Opfern, zumeist jüngeren Kindern. Die trauen sich nicht mehr in die Schule. Auch hier werden die Gesichter immer blasser, die Krankentagen steigen, Bauch- und Kopfschmerzen häufen sich. Hilfe holen Sie sich selten, denn sie haben Angst vor den Konsequenzen. Noch mehr blaue Flecke, noch mehr Abgezocke und Erpressungen. Sie lassen sich lieber weiter erpressen, für die größeren Jungs geklaute E-Zigaretten und manchmal auch Drogen zu verkaufen, sich das Taschengeld oder das Geld für die Pausen-Trockennudeln (Vollkornbrot und Wasser sind ja völlig out!) abnehmen zu lassen.

Die Toiletten muten manchmal als rechtsfreier Raum an. Im Übrigen sehen diese auch so aus. Es gibt immer wieder mutwillige Zerstörungen. Aber die Reparatur zahlt ja die Schule. So what?!

Um die anständigen Kinder kann sich niemand kümmern – sie gehen unter

Was nicht verschwiegen werden soll: an den Schulen gibt es unglaublich tolle, anständige, gut erzogene Kinder. Kinder, die höflich und lernwillig sind. Die ausgeschlafen in die Schule kommen. Die sich an die Handyregeln halten. Die bereits im Elternhaus lernen, dass Konflikte nicht mit den Fäusten austragen werden. Dass es das Recht am eigenen Bild gibt. Aber auch diese Kinder werden zum Teil immer stiller, haben Angst vor denen, die laut, respektlos und grenzenlos sind. Atmen auf, wenn die mal krank sind und nicht in der Schule ihr Unwesen treiben, das Lernen in der Klasse möglich ist.

Und die Lehrer:innen? Ja, die sehen diese Kinder durchaus und sind stolz auf sie. Und verzweifelt. Verzweifelt, weil sie nicht wissen, woher sie die benötigte Zeit nehmen sollen, die auch diese Kinder benötigen, ja, ein Anrecht auf sie haben. Weil die anderen viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Die allen in der Schule die Zeit rauben. Zeit, die wichtig ist, um in Beziehung zu gehen mit den Kindern, sie zu fördern und zu fordern. Damit aus diesen Kindern Erwachsene werden, auf die wir stolz sein können und die vielleicht unsere Bildungspolitik irgendwann reformieren oder sich an anderen wichtigen Stellen gewinnbringend einsetzen.

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