Vom „Horrorhaus” zum Mieter-Paradies: Warum die Hamburger diese Hochhäuser lieben
Zwölf schmale Scheiben, die bis zu 14 Stockwerke in den Himmel von Eimsbüttel ragen – als vor 75 Jahren der erste Spatenstich für die Grindelhochhäuser erfolgte, war das hochgestapelte Wohnen in Deutschland nur eine Utopie. Ein Menschenleben später ist die erste Hochhaussiedlung Deutschlands eine begehrte Adresse. Wie kommt’s? Die MOPO traf eine Mieterin der ersten Stunde und ein begeistertes Künstlerpaar, entdeckte die Lieblingsschneiderei von Olivia Jones und sprach mit einem Hausmeister, der bekannt ist wie ein bunter Hund.
Wenn Hüseyin Göncü in seinem „Revier“ unterwegs ist, kann er kaum zehn Schritte gehen, ohne dass ihn jemand für einen kurzen Schnack aufhält. Mal tropft ein Wasserhahn, mal wackelt eine Duschstange, oft geht es einfach nur ums Hallo sagen. „Schöne Grüße!“ ruft der Hausmeister einem Mann zu, der winkend vorbei fährt: „Ich wohne und arbeite hier“, sagt er: „Mich kennt hier jeder und ich kenne auch fast jeden, das ist ein schönes Gefühl.“
Was viele Hochhaussiedlungen als „Ghetto“ in Verruf bringt, Schmierereien, Unrat, Kriminalität, das ist in den Grindelhochhäusern kaum ein Thema. „Es ist nicht die typische Hochhaus-Atmosphäre“ sagt Hausmeister Göncü, der sich seit 2014 mit zwei Kollegen darum kümmert, dass in den 1900 Saga-Wohnungen keine Schraube locker ist.
Grindelhochhäuser unter Denkmalschutz
Zur Wahrheit gehört: Es war nicht immer so. Es gab eine Zeit, in den 80er Jahren, als das Quartier verrufen war, als eine der gelben Scheiben sogar leer stand und als „Horrorhaus“ bekannt wurde. Lange her. In den 90er Jahren hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft Saga ihre zehn Gebäude für 75 Millionen Euro saniert – und das einstige Horrorhaus, Oberstraße 14, hat längst einen neuen Eigentümer und ist ebenfalls wieder schick. Wer hier wohnt, lebt in einem Denkmal: Im Jahr 2000 wurde die Siedlung unter Schutz gestellt.
Auf den ersten Blick wirken die zwölf hohen Häuser mit den hellgelben Fassaden identisch. „Das sind sie aber nicht“, erklärt Hausmeister Göncü: „Einige Wohnungen haben zum Beispiel Balkone und nur eines der Häuser hat eine Dachterrasse für die Mieter.“
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Tatsächlich fällt auf den zweiten Blick auf: Kein Haus ist wie das andere. Neun unterschiedliche Architekten hatten die Briten nach Kriegsende damit beauftragt, auf der zerbombten Fläche des hochherrschaftlichen Grindelviertels das „Hamburg project“ zu errichten, das Wohnquartier für die britischen Besatzungstruppen.
Deutschlands erste Hochhaussiedlung steht unter Denkmalschutz
Die Briten zogen dann doch nach Frankfurt – und der Hamburger Senat entschied, auf den zwölf Fundamenten Hochhäuser zu bauen, für die Hamburger, in Ost-West-Ausrichtung, damit das Licht von morgens bis abends durch die Zimmer fließt. Die Wohnungen galten als luxuriös, die Mieten waren in der Gehaltsklasse von Beamten und anderen Gutverdienern.
Heute besteht der Luxus in Quadratmeterpreisen von rund zehn Euro Warmmiete – für Eimsbüttel konkurrenzlos billig. Die Folge: Paare bleiben in ihren 80 Quadratmetern wohnen, auch nach der Geburt von ein, zwei, drei Kindern und nehmen die für heutige Verhältnisse drangvolle Enge in Kauf, bauen Hochbetten in Abstellkammern und Regalabtrennungen ins Elternschlafzimmer – um nur nicht aus dem günstigen „Paradies“ mit den vielen Schulen rundum wegziehen zu müssen. Die meisten Wohnungen in den Hochhäusern haben zwei oder drei Zimmer, nur wenige sind nach heutigen Ansprüchen familientauglich – und die sind hochbegehrt.
Eine, die noch gesehen hat, wie die Stahlgerippe in die Höhe wuchsen, ist Gundula Schmidt-Brunn (96), die vor 70 Jahren in eines der Hochhäuser zog, als junge Ehefrau und Mutter mit ihren acht Wochen alten Zwillingssöhnen. Die Wohnung im 6. Stock, in der ihre inzwischen betagten „Jungs“ aufgewachsen sind, bewohnt die alte Dame immer noch, inzwischen verwitwet, aber hellwach und bester Dinge.
Zwei Zimmer, 60 Quadratmeter, zwei Erwachsene, zwei Kinder – klingt nicht sehr komfortabel. „Es war das Paradies“, schwärmt Gundula Schmidt-Brunn: „Fahrstuhl, Müllschlucker, Zentralheizung, heißes Wasser in der Wohnung!“ Die erste Anschaffung der jungen Familie: „Ein Staubsauger auf Ratenzahlung.“ Das wichtigste aber: „Es war eine Sicherheit, die plötzlich da war.“
Pommern, das Land ihrer behüteten Kindheit, hatte sie zurückgelassen, kam als junge Flüchtlingsfrau mit leeren Händen nach Hamburg. Und dann war da diese riesige Baustelle, wo man den Schutt der zerstörten Villen des Grindels weggeräumt hat, Stahl und Kräne als Symbol der Hoffnung nach dem grauenvollen Krieg.
Hochhaussiedlung mit eigenem Park
Mit leuchtenden Augen erzählt die letzte verbliebene Erstmieterin der Grindelhochhäuser von den frühen 50er Jahren: „Es zogen lauter junge Familien her, zwischen den Häusern war eine leere Wüste, da sprangen die Kinder in die Pfützen.“ Inzwischen ist aus der „Wüste“ eine Parkanlage mit Grünflächen, Bronzeskulpturem und großen Bäumen geworden. Kinder springen immer noch umher: Die Wäscherei für die Bewohner, damals großer Luxus, beherbergt heute einen Kindergarten.
Hunderte Kinder wohnten damals in den Grindelhochhäusern, in Wohnungen, die heute Singles und Pärchen gerade groß genug sind: „Mein Mann und ich hatten ein Klappbett im Wohnzimmer, die Jungs schliefen in Stockbetten im zweiten Zimmer“, sagt Gundula Schmidt-Brunn: „Man hatte damals weniger Sachen. Ein Kleiderschrank hat für uns alle gereicht.“
Abends, so erinnert sich Gundula Schmidt-Brunn, spazierte sie gerne mit ihrem Mann zwischen den Hochhäusern entlang: „Schaufensterbummeln, das war herrlich. In den Erdgeschossen gab es Läden für alles, von Lebensmitteln über Herrenausstatter bis Spielsachen. Sogar ein Schokoladengeschäft gab es.“
Grindelhochhäuser: Wohnungen und Geschäfte
Heute blickt man durch die Schaufenster in die Büros von Architekten und Pflegediensten – und in eine Schneiderei, ganz klassisch mit Schnittmustern an den Wänden, bunten Garnen und Schneiderpuppen. Mittendrin: Schneidermeisterin Christina Wüstner (59), die seit vielen Jahren eine Ateliergemeinschaft mit Thomas Stoess betreibt, dem Designer der üppigen Glitzerroben von Olivia Jones. Stoess-Mitarbeiter Markus Eickmans (33) steht gerade an einem Zuschneidetisch, das Maßband um den Hals.
„Wir sind vor zehn Jahren in diesen Laden gezogen und sehr glücklich“, sagt Christina Wüstner: „Wir bieten Maßschneiderei und hier wohnen viele Leute, die diese Dienstleistung zu schätzen wissen. Wir sind aber auch eine Änderungsschneiderei“ – und das wissen viele Bräute des Standesamtes Eimsbüttel zu schätzen, das in einem der Hochhäuser untergebracht ist: An den Wänden des Ateliers hängen Brautkleider von schlicht bis Sahnebaiser. Dazwischen schimmern pink und goldfarben, mit Spiegeln bestickt, die neuesten Kreationen für Kiezqueen Olivia Jones.
Grindel: „schickste Variante der Hochhaussiedlung“
„Das ist die schickste Variante der Hochhaussiedlung“, sagt Olaf Kroenke (63), der mit Grafikdesignerin Kunhild Haberkern (65) in einer 75-Quadratmeterwohnung im sechsten Stock wohnt. Das Künstlerpaar schätzt den „sauberen Sixties-Style“ der Häuser – und das italienische Flair, das die rot-weißen Markisen vor den Fenstern verströmen: „Wir fühlen uns wie in einem Ferienappartement.“
Diese Markisen, seit jeher ein Wahrzeichen der Hochhäuser, sind mit einer komplizierten Seilzugtechnik an der Fassade befestigt, die noch aus der Bauzeit stammt. Nicht alle Wohnungen haben die Stoffe installiert: Die Mieter kaufen die gestreiften Schattenspender, die einige hundert Euro kosten, und können sie über Winter sogar einlagern lassen: „So viel haben wir noch nie in eine Wohnung investiert“, sagt Kroenke, der das Apartment mit den rohen Wänden und dem Original-Linoleum-Fußboden auch als Hintergrund für Foto-Shootings nutzt. „Eigentlich ziehen wir alle paar Jahre um“, sagt Kunhild Haberkern: „Hier können wir uns zum ersten Mal vorstellen, zu bleiben.“ Zum Abschied sagt sie zum MOPO-Team: „Und wenn Sie Herrn Gömcü sehen, sagen Sie ihm schöne Grüße!“ Haben wir gemacht.