Größte Anti-Atomkraft-Demo: Vor 40 Jahren: Die große Schlacht von Brokdorf
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Brokdorf –
Brokdorf, eine winzige Gemeinde südwestlich von Itzehoe, direkt am Elbufer gelegen. Etwas mehr als 1000 Einwohner. Unter normalen Umständen würde den Namen des Ortes außerhalb von Schleswig-Holstein kaum jemand kennen. Aber die Umstände waren alles andere als normal damals, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Da wurde Brokdorf zum Symbol – für den Kampf gegen die Atomenergie und auch für das rigorose Vorgehen der Staatsgewalt. Vor 40 Jahren, am 28. Februar 1981, kam es zur größten Anti-Atomkraft-Demo, die Deutschland je erlebt hat. Mit 100.000 Teilnehmern. Und das, obwohl sie verboten war.
Die Vorgeschichte beginnt im Herbst 1973, als die CDU-geführte Landesregierung Schleswig-Holsteins mit Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg an der Spitze Planungen öffentlich machte, in der Wilstermarsch ein Kernkraftwerk zu bauen. Anfangs herrschte noch gesellschaftliche Einmütigkeit darüber, dass der Atomkraft als unerschöpfliche, Ressourcen schonende Energiequelle die Zukunft gehöre. Aber schon bald begann der Atomkonsens zu bröckeln. Erste Bürgerinitiativen gründeten sich – und dann immer mehr.
Vor 40 Jahren: Die große Schlacht von Brokdorf
Stoltenberg war entschlossen, das Projekt um jeden Preis durchzusetzen. Von „linken Spinnern“ wollte er sich davon nicht abhalten lassen. Obwohl die Gerichte über einige Einsprüche gegen das AKW noch gar nicht entschieden hatten, ordnete er am 25. Oktober 1976 den sofortigen Baubeginn an. Noch in derselben Nacht rückten Bautrupps an und schufen Tatsachen: Sie verbarrikadierten das 300 Hektar große Gelände, sodass die Baustelle bald dem Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze ähnelte – Wassergräben, Betonwände, Stacheldraht, Flutlicht und Hundestreifen. „Brokdorfer Mauer“ wurde diese Festung spöttisch genannt.
Zur Ruhe kam Brokdorf von da an nicht mehr. Es gab so viele Proteste, dass selbst die Atomkraftgegner irgendwann anfingen, die Kundgebungen durchzunummerieren, um sie noch voneinander unterscheiden zu können: Brokdorf I, Brokdorf II, Brokdorf III, Brokdorf IV.
1976 gab es die erste Demo in Brokdorf
An Brokdorf I am 30. Oktober 1976 beteiligten sich lediglich 5000 Teilnehmer. Im November 1976 waren es bei Brokdorf II schon 30.000 – und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Ende waren 81 Polizeibeamte und etwa 500 Demonstranten verletzt. Bei Brokdorf III reisten im Februar 1977 50.000 Atomkraftgegner an – es handelte sich um die vorläufig letzte Protestveranstaltung, denn kurz darauf verhängte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg einen unbefristeten Baustopp und reagierte so darauf, dass die Frage der Entsorgung des Atommülls noch überhaupt nicht geklärt war. Ein Sieg für die Atomkraftgegner. Vorläufig.
Im Januar 1981 hob das Gericht den Baustopp auf
Doch dann, im Januar 1981, hob das Gericht den Baustopp wieder auf. Die Atomkraftgegner reagierten sofort und riefen dazu auf, am 28. Februar 1981 nach Brokdorf zu kommen: Brokdorf IV also. Zwar verhängte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg mit Blick auf zu erwartende Ausschreitungen ein Demonstrationsverbot. Doch als diese Entscheidung fiel – nämlich in der Nacht vor der geplanten Demo – waren die Teilnehmer längst unterwegs oder bereits angereist.
10.000 Polizisten und 100.000 Demonstranten stehen sich gegenüber
Der 28. Februar 1981 war ein bitterkalter Tag. Ein eisiger Ostwind fegte über Norddeutschland. 10.000 Polizeibeamte versuchten zunächst, das Demonstrationsverbot durchzusetzen und die Demonstranten gar nicht erst in die Nähe von Brokdorf kommen zu lassen. Beim Horster Dreieck sperrten Beamte stundenlang die A7. Und auch vor Itzehoe war eine Straßensperre errichtet.
Doch die meisten Protestler erreichten ihr Ziel, indem sie die Absperrungen umgingen, sich ihren Weg über Felder und zugefrorene Gräben bahnten.
Zunächst lief alles friedlich. Aber am Nachmittag, als die meisten bereits auf dem Rückweg waren, wurde es plötzlich ungemütlich. Wie genau es begann, ist bis heute umstritten. Jo Leinen, Chef des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), warf der Polizei später vor, Wasserwerfer zu einem Zeitpunkt eingesetzt zu haben, „als dafür überhaupt kein Anlass bestand“. Die Polizei habe die gewalttätigen Auseinandersetzungen provoziert, um den „bis dahin friedlichen und gewaltfreien Charakter der Demonstration in Misskredit zu bringen“.
Der Vorwurf: Die Polizei habe die Gewalt provoziert
Tatsache ist, dass eine Handvoll Demonstranten damit begann, Steine und Brandflaschen zu werfen. Dramatisch wurde es, als ein Polizeibeamter in einen Wassergraben rutschte und von zwei Männern von oben mit Schaufel und Knüppel malträtiert wurde – er hatte Glück, ihm geschah nichts Schlimmeres. Wütende Polizisten begannen damit, die Demonstranten vor sich her zu treiben. Auf den Wiesen wurde gekämpft, Hubschrauber kreisten in der Luft. Polizisten setzten Schlagstöcke und Tränengas ein. Die Bilanz: 128 Beamte und Hunderte Protestler verletzt.
Vier Monate nach Tschernobyl ging Brokdorf ans Netz
Das Ziel, das Kernkraftwerk Brokdorf zu verhindern, erreichte der Protest nicht, denn im Frühjahr 1981 wurde weitergebaut. Hamburgs Bürgermeister Hans Ulrich Klose (SPD) trat am 25. Mai 1981 unter anderem deshalb von seinem Amt zurück, weil er den von ihm gewünschten Ausstieg aus dem Brokdorf-Projekt gegen Teile der Hamburger SPD-Führung nicht durchsetzen konnte. Im Oktober 1986 – vier Monate nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl – ging Brokdorf in Betrieb.
Übrigens: Ende 2021 wird der Meiler stillgelegt.
1985 entschieden die Verfassungsrichter: Demo-Verbot war unzulässig
Die Großdemonstration von 1981 hatte noch einige juristische Folgen. Zum einen, weil sich die beiden Männer vor Gericht verantworten mussten, die auf den Polizisten im Wassergraben losgegangen waren. Und zum anderen, weil sich auch das Bundesverfassungsgericht mit der Demo beschäftigte – und zwar mit der Frage, ob das Demonstrationsverbot überhaupt zulässig gewesen war. Am 14. Mai 1985 fällten Deutschlands oberste Richter ihr damals Aufsehen erregendes Urteil: Friedfertige Bürger hätten ein Recht auf Versammlungsfreiheit – und zwar auch dann, wenn mit Ausschreitungen Einzelner zu rechnen sei. Die Demo hätte also nicht verboten werden dürfen.
In dem Urteil heißt es wörtlich: „Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen ‚umzufunktionieren‘ und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen. Praktisch könnte dann jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer ‚Erkenntnisse‘ über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen.“
Die Grundsatzentscheidung, die da lautet „im Zweifel für die Versammlungsfreiheit“, hat die politische Kultur in Deutschland verändert. Sie wirkt bis heute nach, sorgt aber manchmal auch zu umstrittenen Entscheidungen: denn es führt auch dazu, dass Demonstrationen von Rechtsextremen nicht unterbunden werden, obwohl klar ist, dass Randale droht. Denn auch sie haben ein Recht auf Demonstration.
„Auf der Flucht vor der Polizei trat ich ins Kaninchenloch“
Günter Zint (79), legendärer Fotograf und Gründer des „Sankt Pauli Museums“, war 1981 als Reporter bei der großen Schlacht um Brokdorf mit dabei. Was ihm zuerst einfällt, wenn er daran denkt? Zint lacht. „Da kommt mir eine schmerzhafte Verletzung in Erinnerung. Ich war bei der Flucht vor marodierenden Polizeieinheiten in ein Kaninchenloch getreten. Der Bänderriss hat mir etliche Arztbesuche und drei Monate Gehhilfen eingebracht.“
Es gab 1981 den Vorwurf, die Polizei habe Gewalt bewusst provoziert. Zint bestätigt das. „Mir fällt ein Erlebnis ein, das ich an dem Wochenende auf einer Autobahnraststätte kurz hinter Hamburg hatte. Da machte gerade eine Polizeieinheit Pause. Ich hörte heimlich zu, wie die Beamten bei Kaffee und Kuchen darüber schwafelten, wie sie den ,Idioten‘ der Anti-AKW-Bewegung mal eine tüchtige Abreibung verpassen würden. Kein Wunder, dass dann alles so brutal verlief“, so Zint.
Polizisten wurden mit Disney-Film auf Linie gebracht: „Unser Freund, das Atom“
Heute ist bekannt, wieso die Polizisten so überzeugt waren, auf der richtigen Seite zu stehen. „Die Beamten haben alle den blödsinnigen Zeichentrickfilm eines Professor Heinz Haber gezeigt bekommen“, sagt Zint. „,Unser Freund, das Atom‘. Es lohnt sich, sich diesen Walt-Disney-Streifen, hergestellt im Auftrag der US-Regierung, mal anzusehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie besoffen die Nachkriegszeit von den Segnungen der Atomkraft war. Im Film entkorkt ein Fischer eine Flasche – und mit einem lauten ,Uuahh!‘ reckt sich der Atomgeist und protzt mit seinen Muskeln. Ergriffen erleben die Zuschauer wie der nette Zeichentrick-Geist nuklear getriebene Schiffe und Flugzeuge mit zärtlicher Geste anschiebt.“
Tatsächlich diente dieser Streifen bis mindestens Ende der 70er Jahre dazu, Polizeibeamten vor Einsätzen in Brokdorf, Kalkar und anderswo deutlich zu machen, wie Atomgegner den Fortschritt der Menschheit behindern. „Keine Wunder, dass die Beamten sich völlig im Recht fühlten als sie die Schlagstöcke zückten.“
Zints Fotos erschienen millionenfach in Büchern
Günter Zint hat seine Fotos von der Demo 1981 in mehreren Bildbänden veröffentlicht. Von ihm stammt auch das Buch „Gegen den Atomstaat“, in dem er die gesamte Geschichte der Anti-AKW-Bewegung erzählt. Es erschien bei „2001“, hatte 30 Auflagen. Etwa eine Million Exemplare wurden gedruckt.