Hamburg und die Reichsgründung: 150 Jahre Deutsches Reich – kein Grund zum Feiern
Gestern vor 150 Jahren wurde im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles Wilhelm I. zum Kaiser ausgerufen. Es war der Gründungsakt der deutschen Nation, die – wenn auch in veränderten Grenzen und mit völlig anderer politischer Verfassung – bis heute Bestand hat. Was ist damals in Hamburg los? Gibt es Feuerwerk und ein Volksfest? Keineswegs! Begeisterung will in der Hansestadt im Januar 1871 nicht aufkommen. Die Freude muss von oben verordnet werden.
Senator Carl Friedrich Petersen, Chef der Polizei und der Inneren Verwaltung (und später Bürgermeister), setzt – gegen den Willen vieler seiner Kollegen – eine Reichsgründungsfeier für den 22. Januar an. Kein Senator fehlt, als zu Ehren des frisch ausgerufen Kaisers 101 Salutschüsse abgegeben werden. Hipp, hipp, hurra! Aber die meisten Beteiligten sind froh, als das Spektakel vorüber ist. „Ungefrühstückt gegen 2 Uhr nach Hause“, notiert einer missmutig in sein Tagebuch, „verdorbener Sonntag“.
Reichsgründungsfeier in Hamburg – ein „verdorbener Sonntag“
Den zurückkehrenden Hamburger Bataillonen, die dabei mitgeholfen haben, Frankreich niederzuringen, bereiten die Bürger dann aber im Juni einen geradezu bombastischen Empfang. Der Rathausmarkt (der so heißt, obwohl mit dem Bau desselben erst 15 Jahre später begonnen wird) ist an diesem Tag schwarz vor Menschen. Die Kirchenglocken läuten. Als die Soldaten ankommen, erheben sich die Versammelten, um sie winkend zu begrüßen. Der Platz selbst ist wie ein Amphitheater umgestaltet. In der Mitte steht ein provisorisches Reiterstandbild Wilhelm I. – aus Gips, oder Holz? Wir wissen es nicht.
Bombastischer Empfang für die heimkehrenden Soldaten
Die Vorbehalte, die es gegen die Reichsgründung gibt, sind leicht nachvollziehbar: Eben noch war Hamburg eine republikanisch verfasste Kaufmannsstadt, die eigenständig ihren weltumfassenden Handel lenkte. Es gab keinen Monarchen, dem Hamburg zu Rechenschaft verpflichtet war. Nun aber ist es mit dem selbständigen Staatswesen vorbei.
Selbst die Zusicherung, die Stadt dürfe ihre Zollfreiheit behalten, ist schon nach kurzer Zeit nichts mehr wert. Reichskanzler Otto von Bismarck erhöht den Druck, nun doch dem Zollgebiet des Reiches beizutreten. Hamburg darf – das ist der Kompromiss – einen Freihafen errichten. Daraufhin wird das Wohnviertel auf den Inseln Wandrahm und Kehrwieder niedergerissen, 22 000 Menschen werden zwangsumgesiedelt – die Speicherstadt entsteht.
Für den Bau der Speicherstadt muss ein ganzes Wohngebiet weichen
Der Reichsgründung folgt dann aber allen Befürchtungen zum Trotz nicht der Niedergang der Stadt – ganz im Gegenteil. Keine andere Metropole profitiert so sehr. Hamburgs Wirtschaft florierte zwar auch schon vor 1871. Nach der Reichsgründung aber setzt ein beispielloser Boom ein, was sich nicht zuletzt an den Einwohnerzahlen ablesen lässt: 240 000 sind es bei Reichsgründung, rund 40 Jahre später, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, mehr als eine Million.
Zollanschluss: 1888 ist Kaiser Wilhelm zu Besuch in der Stadt
Hamburg ist viertgrößter Hafen der Welt, Umschlagplatz von Waren- und Finanzströmen und bedeutendster Auswandererhafen des Kontinents. Außerdem ist die Stadt Sitz zahlreicher nationaler und internationaler Handelsbanken, Versicherungsgesellschaften, Unternehmen und Schiffsreedereien. Das „Tor zur Welt“ beansprucht seinen Platz als wichtiger Dreh- und Angelpunkt der Globalisierung vor 1914.
Hamburg ist auch die Kolonialmetropole des Reiches. Im Hafen brechen Kolonialbeamte, Missionare, Kaufleute und Siedler auf Schiffen der Woermann-Linie und der Deutschen Ost-Afrika Linie in Richtung Afrika auf. Auch die Soldaten der Schutztruppen, die 1904 in Deutsch-Südwest den Aufstand der Herero niederschlagen und Völkermord begehen, schiffen in Hamburg ein.
Die Schokoladenseite der Wilhelminischen Ära
In der sogenannten Wilhelminischen Ära, der Belle Epoque, verändert die Stadt ihr Antlitz stark: Sie putzt sich heraus. Zahlreiche Gründerzeitbauten werden hochgezogen, der (Alte) Elbtunnel und das Rathaus, der Hauptbahnhof und die Mönckebergstraße entstehen. Die U-Bahn wird gebaut, die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt. Auf alten Ansichts-Postkarten jener Zeit ist Hamburg wirklich schön anzusehen.
Auf keiner Ansichtskarte abgebildet sind die Schattenseiten der Industrialisierung. Der Boom hat weit mehr Verlierer als Gewinner: Hunderttausende von Werft- und Industriearbeitern schuften 90 Stunden pro Woche. Frauen und Kinder müssen zu Hungerlöhnen mitverdienen, damit’s irgendwie reicht. Die schlimmsten Slums Europas sind Hamburgs Gängeviertel, in denen 1893 die Cholera grassiert. 9000 Tote bringen an den Tag, dass die hohen Herren im Rathaus die Lage der einfachen Menschen ignoriert und stattdessen Politik nur für die Reichen gemacht haben.
Hunderttausende Arbeiter leben in großer Armut
So ist es nicht überraschend, dass Hamburg aufsteigt zur Hochburg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Nirgendwo sonst ist die Kampfbereitschaft höher. Beim Großen Hafenarbeiterstreik treten 1896/97 mehr als 17 000 Menschen in den Ausstand – elf Wochen lang. Es ist der längste Arbeitskampf im Deutschland des 19. Jahrhunderts. August Bebel, einer der Begründer der Sozialdemokratie, nennt Hamburg „die Hauptstadt des deutschen Sozialismus“.
Auf der anderen Seite erstarkt im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg ein aggressiver Nationalismus völkischer und antidemokratischer Prägung in der Stadt Hamburg. Krieg als zulässiges Mittel der Politik und ein konservatives autoritäres Staatsgebilde – das sind die politischen Ideen, die das 1906 eingeweihte Hamburger Bismarckdenkmal symbolisch zum Ausdruck bringen soll.
Bismarckdenkmal: Ein Symbol des Nationalismus
Im Hamburger Hafen, auf den Bismarcks Statue blickt, geht 1913 der größte Passagierdampfer der Welt auf große Fahrt, der nicht zufällig den Namen „Imperator“ trägt – eine Huldigung an den Kaiser (jetzt Wilhelm II.), aber auch Ausdruck eines völlig überhöhten, gefährlichen Nationalgefühls. Fast schon folgerichtig, dass sich die Völker Europas schon ein Jahr später an den Fronten waffenstarrend gegenüberstehen.
Ob es den Ersten Weltkrieg ohne das Kaiserreich überhaupt gegeben hätte? Wenn nicht, dann hätte es auch keinen Versailler Vertrag gegeben, keinen Hitler, kein Auschwitz und keinen Zweiten Weltkrieg. Die Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren – das haben Hamburgs Senatoren ja damals schon geahnt – ist kein Grund zu feiern, sondern Anlass, nachdenklich zu werden.