• Der Hopfenmarkt in Hamburg mit dem Fleisch-Schrangen.
  • Foto: MOPO-Archiv

Hamburgs freche Händler: So wild ging es vor 200 Jahren auf unseren Straßen zu

Hamburg um 1800. Das Stadtbild wird dominiert von ineinander verschachtelten mittelalterlichen Fachwerkhäusern und engen Gassen, in die kaum ein Strahl Sonnenlicht dringt. Auf den Straßen und Plätzen dieser Großstadt – damals hat sie 130.000 Einwohner, umfasst aber auch nur Alt- und Neustadt – ist es nie ruhig, jedenfalls nicht bei Tage: In das Gemurmel der Menschen, das Klappern der Pferdehufe, das Scheuern der Wagenräder und das Quietschen der Schott‘schen Karren auf dem Kopfsteinpflaster mischt sich der Singsang der sogenannten „Ausrufer“ – der fliegenden Händler, die mal lustig, mal frech, mal anzüglich ihre Waren feilbieten.

Da sind die Wasserträger, die insbesondere in der brunnenarmen Neustadt ihre Kunden haben. Aus dem Holsteinischen reisen Kleinbauern an, um lebende Gänse, Tauben und Hühner anzubieten.

Hamburgs Stadtzentrum um 1840

Hamburgs altes Stadtzentrum im Jahr 1840: Die Börse, die alte Waage und der alte Krahn. Davor Geschäftsleute.

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Staatsarchiv Hamburg

Aus den Elbmarschen kommen Kohl und Kartoffeln, aber auch Butter, Käse und Milch, während die Vierländerinnen Bohnen, Erdbeeren und Rosen und die Altländerinnen Äpfel und Kirschen verkaufen.

NDieser Händler trägt auf dem Kopf lebendiges Geflügel und ruft: "Küke, junge fette Küken!"euer Inhalt (28)

Dieser Händler trägt auf dem Kopf lebendiges Geflügel und ruft: „Küke, junge fette Küken!“

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Staatsarchiv Hamburg

So wild ging es vor 200 Jahren auf Hamburgs Straßen zu 

Natürlich spielt in der Hafenstadt Hamburg auch Fisch eine große Rolle: Die Finkenwerder stehen nicht nur auf hoher See, sondern auch auf dem heimischen Markt mit den Blankenesern in Wettbewerb und beide wiederum mit den Helgoländern, die mit ihren Schollen, Heringen, Krabben und Muscheln nach Hamburg kommen.

Holzschuh-Händler

Dieser Händler bietet „Holten Tüffel“ an – Holzschuhe. 

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Staatsarchiv Hamburg

Doch die ambulanten Händler bringen nicht nur Lebensmittel an den Mann, sondern alle möglichen Waren des täglichen Bedarfs. In der sogenannten Judenbörse in der Neustadt – in der Elbstraße, die heute Neanderstraße heißt –  bieten jüdische Händler bunte Bänder, gewebte Kanten, aber auch Gläser, Brillen, Spazierstöcke und Hosenträger an. Anderswo gibt es „feine Zigarren“ zu kaufen oder „holten Tüffeln“ (Holzpantoffeln), Fußmatten, Blasebälge, „Zeugkneipen“ (Wäscheklammern), „Schwefelsticken“ (Streichhölzer) und Schuhwichse. Sogar (in Hamburg produzierte) Schwarzwälder Uhren sind zu finden.

Zigarrenhändler

Abends an der Binnenalster bietet dieser junge Mann „feine Zigarren“ zum Kauf an.

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Staatsarchiv Hamburg

Ein paar der Händler kommen uns aus heutiger Sicht ganz besonders kurios vor: etwa der Grashüpfer-Höker. Er fängt die Insekten während der Heuernte, sperrt sie in kleine Käfige aus Papier und verkauft sie auf der Straße an solche Leute, denen das Zirpen Vergnügen bereitet, und davon gibt es damals wohl viele.

Grashüpfer-Höker

„Grashüpp koop, wö jy Grashüpp, hüpp, koop!“ Wollt ihr Grashüpfer kaufen, so sprach dieser Händler die Passanten an.

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Staatsarchiv Hamburg

Oder der Liedermann: Er hat vor sich neueste Liedtexte ausgebreitet und auf Wunsch des Publikums singt er sie sogar vor. Meist ist er von vielen Menschen umringt.

Sich unter Strom setzen zu lassen, kostet einen Schilling

Und dann ist da noch einer, der sich als „öffentlicher Lehrer für Physik“ ausgibt und sein Geld mit „Elektrisieren“ verdient. Elektrizität steckt noch völlig in den Kinderschuhen, und die neugierigen Menschen zahlen einen Schilling dafür, dass sie mithilfe einer seltsamen Apparatur unter Strom gesetzt werden. Die Umstehenden schauen belustigt zu, wie der „Elektrisierte“ allerhand komische Verrenkungen macht und seltsame Stellungen annimmt, bevor er erschrocken loslässt. Was da vorgeht, versteht noch keiner. Die Wohnungen werden damals noch von Tranfunzeln beleuchtet. Erst 1882 wird am Rathausmarkt die erste elektrische Straßenbeleuchtung in Betrieb gehen.

Für 1 Schilling "elektrisieren".

Für 1 Schilling setzt dieser Mann seine Kundschaft unter Strom – eine große Gaudi. Um 1800 ist Elektrizität noch ein Mysterium. Erst mehr als 80 Jahre später bekommt Hamburg elektrische Straßenbeleuchtung.

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Christoffer Suhr setzt den Straßenhändlern ein Denkmal

Das geschäftige quirlige Leben auf Hamburgs Straßen vor 220 Jahren – es wäre heute völlig vergessen, hätte der Hamburger Künstler Christoffer Suhr, geboren am 29. Mai 1771, nicht 1806/1807 ein Buch herausgegeben, das er „Der Ausruf in Hamburg“ nennt. Auf 120 Aquatinta-Radierungen setzt er darin den fliegenden Händlern jener Zeit ein immerwährendes Denkmal. Die Originalausgabe des Werkes ist heute äußerst selten im Antiquariat zu finden und ein Vermögen wert.

Schiffsjungen stellen Seehund aus

Wer sich den Seehund ansehen will, muss erst mal ein paar Schillingen an diese Schiffsjungen zahlen: „En Rubben to seen!“

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Suhrs Stiche – die schönsten davon präsentieren wir hier – sind von hervorragender Qualität. Aber auch der Text, den Suhrs enger Freund Karl Johann Heinrich Hübbe, ein Pastor aus Allermöhe, geschrieben hat, hat es in sich. Auf 146 Seiten erklärt Hübbe wortgewandt, amüsant und detailreich, wie das Geschäft der ambulanten Händler funktioniert.  

Jüdischer Händler mit Bändern

„Siden Bant un Weefkant“ bietet dieser jüdische Händler an – Seidenbank und Webkante

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Staatsarchiv Hamburg

„Schöne Zitron und Appelsina, so söt as mien Trina“

Natürlich erklärt Hübbe auch, warum sie überhaupt „Ausrufer“ heißen. Weil sie eben nicht still in der Ecke stehen und auf Kunden warten, sondern ganz im Gegenteil gezielt die Aufmerksamkeit der Passanten erregen. Etwa durch gesungene Rufe: „Goes, fette Goes!“ (Gänse, fette Gänse), „Koop Sand, idel, kriedelwit Sand, gar keen geel mank, koop Sand“ (Kauf Sand, kreideweißer Sand, gar kein Gelb dazwischen) oder „Erbeern, groot und lütj, lütj und groot Erbeern, Erbeern!“, so gellt es durch die Straßen. Manchmal werden die Leute regelrecht bedrängt: „Grashüpp koop, wo jy (wollt ihr) Grashüpp, hüpp, koop?“,  fragt der Händler und hält dem Passanten seine Waren unter die Nase. Erfolgreicher sind die, die es mit Witz probieren – wie der Südfrucht-Händler: „Schöne Zitron und Appelsina, so söt as mien Trina“ (… so süß wie meine Trina).

Händler mit Apfelsinen und Zitronen

„Schöne Zitron und Appelsina, so söt as mien Trina“ – mit diesen Worten wurden Süd-Früchte feilgeboten.

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Staatsarchiv Hamburg

Nein, auf den Mund gefallen sind die Händler nicht. Gelegentlich beweisen aber auch die Kunden Schlagfertigkeit, und manche der provozierenden Gegenrufe verfestigen sich bald – so wie Hummel Hummel Mors Mors. Wer etwa mit Löffeln handelt, bekommt mehr als 100 Jahre lang auf seinen Ruf „Lepel und Schleef (großer Holzlöffel)!“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diese Antwort: „De Buren sind Deef (Diebe)!“Auch Sprottenhändler müssen sich einiges anhören: „Kieler Sprott, halv verrott’t Kopp und Stert (Schwanz) is nix wert!“ So rufen es ihnen die Halbstarken zu.

Aal-Verkäuferin

„Grön Aal! Grön Aal“, so ruft die Verkäuferin. Aale werden damals genauso wie Lachs in der Elbe gefangen.

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Staatarchiv Hamburg

Milch wird gepantscht, alter Hering wieder „frisch“ gemacht

Nicht nur von Strom, auch von Verbraucherschutz wissen die Menschen um 1800 noch nichts. Und weil fliegende Händler naturgemäß schwer in Regress zu nehmen sind, erlaubt sich mancher von ihnen fiese Tricks. Hübbe schreibt von Erdbeer-Hökern, die zwar große rote Früchte in ihren Körben präsentieren, deren Kunden dann aber zu Hause feststellen, dass ihnen mit Taschenspieler-Tricks nur die mickrigen untergejubelt wurden. Mancher uralte Hering sehe nur deshalb noch so appetitlich aus, so Hübbe, weil er gewässert und mit frischem Salz bestreut ist. Und auch die Masche der Milchhöker kennt er: Die Schwarzen Schafe des Gewerbes strecken ihre Ware mit Wasser – und zwar mit gekochtem, weil dann die Hausfrau die Panscherei nicht so schnell bemerkt! 

Christoffer Suhr

Der Künstler Christoffer Suhr (1771-1842) prägte mit seinen Bildern den Begriff „Hamburgensie“. 

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MOPO-Archiv

Die Brüder Suhr prägten den Begriff „Hamburgensie“

„Der Ausruf in Hamburg“ ist eins der bekanntesten Werke Christoffer Suhrs. Gemeinsam mit seinen Brüdern Cornelius (1781-1857) und Peter Suhr (1788-1857) hat er auch danach noch mehrere Jahrzehnte die Kunstwelt Hamburgs dominiert. Gemeinsam brachten die Brüder Hunderte Lithografien, Zeichnungen, Stiche, Grafiken sowie Radierungen heraus. Als Motive wählten sie dabei fast immer die Stadt, die damaligen Vorstädte und die Menschen auf der Straße, die Mode und die Trachten. Heute reden wir von „Hamburgensien“, wenn etwas originär und einzigartig hamburgisch ist – die Gebrüder Suhr haben diesen Begriff mit ihrer Kunst erst geprägt.  

„Oskar vom Pferdemarkt“ war Hamburgs letztes Original

Als Christoffer Suhr 1842 stirbt, da gibt es die „Ausrufer“ noch überall in Hamburg. Ladengeschäfte und Warenhäuser – das erste ist 1897 das „Waarenhaus Hermann Tietz“ am Großen Burstah –  sorgen dann aber bald für ihren langsamen Tod. Einer der letzten fliegenden Händler ist „Oskar vom Pferdemarkt“, bürgerlich Fritz Krüger (1902-1969), der mit seinem Stand neben Karstadt zum letzten Hamburger Original wird. Er bietet Rasierklingen („Na, Mutti, willste mal probieren?“), Blutstiller („Erst in die Backe schneiden, dann schnell auftupfen“) oder Seife („Hast dir bei deiner schweren Arbeit wohl schwatte Pfoten geholt“) an, außerdem Schnürsenkel, Rasierpinsel, Taschenmesser, Nivea-Creme, Hühneraugenmittel und Kragenknöpfe. Geht einer weiter mit der Ausrede, er habe kein Geld, dem ruft er hinterher: „Wer kein Geld hat, langt dem Nebenmann in die Tasche, vielleicht hat der noch was.“ 

Heute gibt es Szenen, wie sie früher überall in der Stadt an jedem Wochentag zu sehen waren, bestenfalls noch sonntagsfrüh auf dem Altonaer Fischmarkt, wenn Aale-Dieter und Bananen-Fred wortgewaltig ihre Ware anpreisen. Demnächst wieder. Sobald Corona es zulässt.

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