• Christian Nagel (✝) beim Abschöpfen von Tofu Mitte der 80er Jahre.
  • Foto: hfr/privat

Das sind Hamburgs Nachhaltigkeits-Pioniere

In den 80er und 90er Jahren galten sie als Ökos. Als Spinner. Als hoffnungslose Idealisten. Kleine Unternehmer, die die kapitalistische Produktionsweise der Verschwendung, Ausbeutung und Umweltverschmutzung nicht mitgehen wollten. Die einen anderen Weg einschlugen, um Ressourcen zu schonen. Obwohl sie oft belächelt wurden, haben sie sich von ihrer Mission nicht abbringen lassen – und am Ende Recht bekommen. Heute zählen Thomas Effenberger, Andreas Dreymann, Andrea Nagel, Uli und Manfred Ott oder Thomas Sannmann (†) zu Hamburgs Nachhaltigkeits-Pionieren. Ihre Produkte werden von den Kunden nicht nur wegen der positiven Öko-Bilanz geschätzt. Sondern auch, weil die Waren einfach eine viel höhere Qualität haben. Das schmeckt man und das fühlt man!

Thomas Effenberger – der Vollblut-Vollkornbäcker

Eigentlich war es nur Faulheit, die aus dem Bremer Bäckerssohn Thomas Effenberger Norddeutschlands ersten Vollkorn-Bäcker machte. Effenberger war 14 Jahre alt und hatte gerade eine Ausbildung im väterlichen Betrieb begonnen, da wurde der Senior krank. „Ich sollte das Brot backen. Und mich genau an die Anleitung auf der Verpackung halten. Eine Fertigmischung“, sagt der 65-Jährige und verzieht das Gesicht.

Dem jungen Azubi war die lange Liste der Handgriffe zu mühsam. Effenberger besann sich auf das Jahrhunderte alte Backhandwerk, das Brote aus vollem Schrot und Korn ohne Zusätze verarbeitet hatte. Die Überraschung: Das Experiment ging weg wie warme Semmeln. Bald darauf stellte die Familie das gesamte Sortiment auf Vollkorn um.

Thomas Effenberger zog 1985 nach Hamburg, betreibt seitdem seine Bäckerei in der Rutschbahn (Rotherbaum). „Vollkorn ist die vernünftigste Ernährungsform. Die Schalenteile regulieren die Verdauung, die Keimlinge enthalten Vitamin E. Warum sollte ich das raussortieren?“ Bei Zutaten setzt Effenberger auf Regionalität, seine Teige gehen bis zu 48 Stunden. „Viele Leute denken, sie vertragen bestimmte Getreidesorten nicht. Studien belegen: Entscheidend für die Bekömmlichkeit ist nicht das Getreide, sondern die Verarbeitungszeit.“

Nachhaltigkeit ist Effenberger wichtig: Überproduktion gibt es bei ihm nicht. Selbst die nur drei Prozent Retouren landen nicht in der Tonne: „Wir trocknen die Reste, mahlen sie und geben sie in die neuen Teige.“ Die Bäckerei verbraucht nur ein Drittel der Energie anderer Bäckereien. Der Wasserdampf, der beim Backen entsteht, wird in Energie umgewandelt. Alle Transporter, selbst der Marktwagen fahren elektrisch.


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Andrea Nagel – die Tofu-Königin

Als die Krankenschwester Andrea Nagel und ihr Mann Christian (†), ein Elektriker, Anfang der 80er Jahre beschlossen, sich nur noch makrobiotisch zu ernähren, waren sie entsetzt. „Tofu ist das perfekte Nahrungsmittel, wenn man auf tierische Produkte verzichten will. Doch der einzige Tofu, den man in Hamburg bekam, war grau und schmeckte grässlich!“, erinnert sich die 58-Jährige.

Das Ehepaar ging volles Risiko ein: Beide hängten ihre Berufe an den Nagel und begannen, Säcke voller Sojabohnen in einen Hinterhof auf St. Pauli schleppen, um dort Tofu zu schöpfen. Schönen, frischen, weißen. So wie er in Asien üblich ist. Die ersten Jahre waren zäh. Doch dann kam Tschernobyl. „Das war die große Wende“, erzählt Andrea Nagel. Die Nachfrage nach dem garantiert strahlenfreien Fleischersatz stieg. Und die Nagels wurden kreativ. Sie produzierten Räuchertofu, Kräutertofu, Seitan, Burger. Die Waren lieferten sie persönlich an rund 40 kleine Bio-Läden in ganz Hamburg. Läden, die es größtenteils nicht mehr gibt.

Andrea Nagel kritisiert diese Entwicklung: „Unser Wirtschaftssystem orientiert sich nur am Profit, nicht am Gemeinwohl. Das mündet in einer enormen Lebensmittelverschwendung, die Ressourcen unseres Planeten werden zerstört.“ Die Nagels wollten den Weg des Wachstumszwangs nicht mitgehen. „Das Problem ist: Das geht nicht.“ Die Nagels waren gezwungen, an den Lebensmittelgroßhandel zu liefern, die wiederum Ketten wie Alnatura, Erdkorn, Denns oder Tjadens beliefern. Zusammen mit ihrem Sohn Johannes, der nach dem Tod des Vaters ins Geschäft einstieg, will Andrea Nagel sich der Wirtschaftsreformbewegung „Gemeinwohlökonomie“ anschließen: „Wir lassen uns jetzt zertifizieren.“

Andreas Dreymann – Fleischer mit Liebe zum Tier

Ein Metzger als Nachhaltigkeitspionier – geht das überhaupt? Wo die Fleischwirtschaft doch einer der größten Klima-Killer ist! Es geht. Denn Andreas Dreymann ist ein erklärter Gegner von Massentierhaltung. Seine Rinder vom Gut Wulfsdorf bekommen Futter aus eigener Anpflanzung, keine Medikamente und stehen fast das ganze Jahr über auf der Weide. Und sie dürfen drei Jahre alt werden. Normal ist in Deutschland ein Jahr. Das schmeckt man! Das Fleisch von Dreymann ist ohne Frage das beste in ganz Hamburg.

„Wenn die Tiere langsamer wachsen, bilden sie wertvolle Eigenfette“, erklärt Andreas Dreymann. Das wirke sich auf den Geschmack aus. Auch bei der Schlachtung werde streng darauf geachtet, dass die Tiere nicht in Stress geraten. Denn ein Adrenalinausstoß würde das Fleisch übersäuern. Dreymann weiß, worauf es ankommt. Er hat als Metzgerssohn aus dem Harz nicht nur schon sein Leben lang mit Fleisch zu tun, er ist auch noch ausgebildeter Fleisch-Sommelier. Ein Feinschmecker erster Güte also.

Anders als sein Vater hat sich Dreymann schon früh der Bio-Szene zugewandt. Sieben Jahre arbeitete er bei Hamburgs ältester Bio-Fleischerei Fricke. Dann machte er sich zusammen mit seiner Frau selbstständig und unterwarf sich den Regeln des strengsten Bio-Siegels Demeter. „Mir geht es um Ehrlichkeit und Konsequenz“, sagt Dreymann. Seine Kunden wissen das zu schätzen. „Früher waren es Umweltaktivisten, die beim Bio-Fleischer kauften. Heute kommen Menschen, denen Qualität wichtig ist.“

Dreymanns Zielgruppe sind die sogenannten Flexitarier, Menschen also, die wenig Fleisch essen, es dann aber zelebrieren – und deshalb auch bereit sind, den entsprechenden Preis für gutes Fleisch zu bezahlen. Dreymann: „Alle regen sich über Skandale wie bei Tönnies auf. Aber dann greifen sie im Supermarkt wieder zum Billig-Fleisch. Diese Doppelmoral stört mich. Der Verbraucher hat es in der Hand. Sein Einkaufsverhalten entscheidet darüber, wie sich die Fleischindustrie entwickelt.“

Familie Ott – Naturmode mit Chic

Ein umgebauter Lkw, ein Haufen Second-Hand-Klamotten – so hat Anfang der 80er Jahre alles angefangen. Uli und Manfred Ott verkauften Kleider auf dem Flohmarkt, um sich ihr Pädagogik-Studium zu finanzieren. Doch als sie fertig waren, gab es eine Lehrer-Schwemme. „Uns hat der Handel inzwischen solchen Spaß gemacht, dass wir einen Laden an der Rentzelstraße eröffneten“, erzählt Uli Ott.

Neben gebrauchter Kleidung gab es Neuwaren. „Immer wenn wir die Pakete öffneten, kam uns ein beißender Geruch entgegen“, sagt Uli Ott. Das waren die Giftstoffe aus den Färbereien, die noch in der Kleidung waren. „Es war kein Geheimnis, dass die Textilindustrie Chemie auf die Felder und in die Flüsse kippt. Das wollten wir nicht.“ Auch die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken in Asien wollten die Otts nicht unterstützen. Sie stellten ihr Sortiment auf Naturmode um. Problem: Das bedeute lange Zeit kratzige Stoffe, sackige Schnitte, langweilige Farben. Der Laden fristete ein Nischen-Dasein.

Nach dem Umzug von „Marlowe Nature“ an die Ecke Bogenstraße / Beim Schlump, das die Otts inzwischen zusammen mit ihren beiden Töchtern führen, kam die Wende. „Einer Färberei in der Schweiz gelang es, leuchtende Farben auf nachhaltiger Basis herzustellen“, sagt Uli Ott. Bald darauf folgten modische Schnitte, so dass die nachhaltige Kleidung von konventioneller kaum noch zu unterscheiden war.

„Plötzlich gab es Hoodies mit leuchtenden Aufdrucken“, sagt Uli Ott. Und von den Unis kamen hochmotivierte Modedesigner, denen Nachhaltigkeit am Herzen lag. Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch mit 1135 Toten tat ein übriges. „Die Menschen haben beim Einkaufen mehr Acht gegeben.“ Läden wie „Marlowe Nature“ schossen aus der Nische in die Mitte der Gesellschaft. Selbst Corona konnte dem Familienbetrieb nichts anhaben. „Meine Töchter haben viel auf Instagram gemacht. Das kam gut an. Unser Online-Shop lief super.“ Und für weniger Internet-affine Kunden gibt es auch eine Lösung: Manfred Ott fährt die Kleidung mit dem Lastenfahrrad aus. Uli Ott: „Wir haben auch nach so langer Zeit immer noch einen Höllenspaß.“

Familie Sannmann – die Bio-Gärtner

Seit 1780 baut die Familie Sannmann in den Vierlanden Gemüse an. So wie es den jeweiligen Zeitläufen entsprach. Doch 1982 beschloss Sohn Thomas Sannmann, vom üblichen Weg abzuweichen. „Unser erstes Kind war unterwegs. Mein Mann wollte keine Pestizide mehr auf die Felder spritzen“, erinnert sich Monika Sannmann. „Wir wollten der künftigen Generation keine verseuchten Böden liefern.“

Die Schwiegereltern waren skeptisch. Aber sie gaben dem Paar eine Fläche zum Ausprobieren. Die jungen Sannmanns verschrieben sich den strengsten Bio-Regeln nach Demeter. Es lief! „Für meine Schwiegereltern war das entscheidend. Nach zwei Jahren machten sie uns den Weg frei“, sagt Monika Sannmann. Der Hof wurde komplett auf bio umgestellt. Der Verkauf lief anfangs über einen Hofladen, Wochenmärkte und Großhandel. Später kam das Gemüse-Abo hinzu, das bis heute grüne Kisten in tausende Hamburger Haushalte liefert.

„Das Bewusstsein für gute Ware ist stetig gewachsen“, so Monika Sannmann. Nur, dass Obst und Gemüse saisonabhängig sind, wollen die Städter zu Sannmanns Betrübnis nicht begreifen. „Mir war es zuerst wichtig, nur regionale Waren zu verkaufen“, sagt die 60-Jährige. Doch dann fragten die Kunden im Winter, ob es keine Paprika oder Tomaten gebe. Kaum einer wollte verzichten. Daher fanden die Sannmanns Wege, um Tomaten aus Südeuropa zu beziehen, die zumindest Demeter-zertifiziert sind. „Es ist schwierig, die Kunden zum Umdenken zu bewegen.“ Immerhin: Die Regionalkiste der Sannmanns ist die beliebteste.

Ein Schock für die Familie war der Tod von Thomas Sannmann mit nur 61 Jahren im Sommer 2020. Der „grüne Leuchtturm“ der Region verschwand, schrieben die Medien. Zumindest eins bescherte ihm auf dem Sterbebett noch einen Glücksstrahl: Tochter Alina begann eine Gärtnerlehre. Zusammen mit einem weiteren der vier Sannmann-Kinder soll das Andenken an den Nachhaltigkeits-Pionier aus Ochsenwerder am Leben gehalten werden.

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