Hamburgs wichtigste Autorin: Sie bringt unsere Kinder zum Lesen
Möwenweg, Ritter-Trenk, Seeräuber-Moses, Meerschwein King-Kong, Skogland – die Hamburger Autorin Kirsten Boie erzählt seit 35 Jahren Geschichten für Kinder und Jugendliche und macht dabei auch vor schwierigen Themen nicht Halt. Ihr wichtigstes Ziel: lesende Kinder.
Der Schriftstellerin Kirsten Boie liegen Kinder sehr am Herzen. Das wird schnell klar, wenn man der Hamburgerin zuhört. Ob mit ihren Dutzenden Geschichten für kleine und große Mädchen und Jungen oder mit ihren bundesweiten Anstrengungen rund um die Leseförderung – Kinder mit Spaß am Lesen machen Boie unendlich glücklich. Wie kaum eine andere deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin hat sie sich den Kampf für das Lesen auf die Fahnen geschrieben. Erst kürzlich wurde sie unter anderem dafür zu Hamburgs Ehrenbürgerin ernannt. Am 19. März wird Boie 70 Jahre alt und die Liste ihrer Ziele ist noch lang.
Boie ist Schriftstellerin durch und durch. Ihr Alltag fügt sich um das Schreiben herum ein, er wird vom Schreiben bestimmt. Dabei ist sie sehr diszipliniert. „Auch, wenn ich gern noch eine Stunde länger schlafen möchte, stehe ich früh auf und schreibe“, sagt sie der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg. Das komme noch aus der Zeit, als ihre beiden Adoptivkinder klein waren und sie die kurze Kita-Zeit am Vormittag effektiv für das Schreiben nutzen musste.
Von der Lehrerin zur Schriftstellerin
Damals war sie eher aus der Not heraus Schriftstellerin geworden. Eigentlich war die studierte Literaturwissenschaftlerin und Anglistin in den 70ern und 80ern Lehrerin an einem Gymnasium und einer Gesamtschule. Eine Arbeit, die sie sehr erfüllt hat, wie sie sagt. Vor allem, wenn sie dabei Kindern aus sozial schwachen Haushalten eine wichtige Stabilität bieten konnte. Doch für das Jugendamt musste sie die Arbeit aufgeben, um eine gute Mutter sein zu können. „Ich wollte erst Groschenromane schreiben, um die Familie miternähren zu können. Da dachte ich: das traue ich mir zu. Auf Kinderbücher bin ich wirklich nicht gekommen“, erinnert sie sich.
Dass am Ende doch ein Kinderbuch ihr Debüt wurde, war schlicht ihrer Lebenswirklichkeit geschuldet. „Ich habe meinen Sohn gefüttert und dabei sind mir die ersten Sätze für mein erstes Buch wirklich in meinen Kopf geschossen“. „Paule ist ein Glücksgriff“ dreht sich um ein schwarzes Kind von weißen Eltern. „Mein ganz großes Glück war, dass ich nach nur drei Kapiteln einen Verlag gefunden hatte. Mit dem Thema Adoption und dann auch noch eines schwarzen Kindes habe ich eine ganz große Lücke auf dem Büchermarkt gefunden.“
Geschichten aus der echten Welt für Kinder
Dem Erstlingswerk folgen gut 100 weitere Bücher. Für Kindergartenkinder, für Leseanfänger, für Jugendliche. Sie baut in acht Bänden die „Möwenweg“-Welten, erdenkt Abenteuer für den „Kleinen Ritter Trenk“, das Seeräubermädchen Moses, das Meerschweinchen King-Kong, den kleinen Detektiv Thabo, lässt Lena, Juli und Linnea die allbekannten Kleinigkeiten des Kinderalltags durchleben und zieht jugendliche Leser in den Skogland-Kosmos.
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Dabei macht Boie auch vor schwierigeren Themen nicht Halt. Obdachlosigkeit, Rechtsextremismus, die Schere zwischen Arm und Reich, Mobbing, Flüchtlingskinder – „thematisch kann man ganz viel Kinder für erzählen. Entscheidend ist, wie es erzählt wird. Dass es so erzählt wird, dass sie es ertragen können.“
Inspiration für ihre Geschichten holt sie sich von ihren eigenen, mittlerweile erwachsenen Kindern, aus Briefen von Kindern an sie („Ich bekomme etwa fünf Briefe in der Woche und ich beantworte jeden davon“) und vor allem aus ihrer eigenen Kindheit.
Ihre Buch-Ideen erzählt sie niemanden
Wenn eine Geschichte in ihrem Kopf ist, macht Boie lieber ein Geheimnis daraus. „Was ich schreibe, erzähle ich niemandem. Nicht einmal meinem Mann. Ich bin einfach sehr schnell verunsicherbar. Bis heute. Wenn da skeptische Nachfragen kommen, kann mich das total blockieren.“ Gleichzeitig ist ihr Mann, mit dem sie seit 43 Jahren verheiratet ist, auch schon immer ihr erster Leser. „Er gibt noch Anregungen und kritisiert. Aber wenn er es gelesen hat und es in Ordnung findet, dann gibt mir das Sicherheit.“
Der Lohn sind nicht nur begeisterte Leser, sondern auch Auszeichnungen. Boie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, sie bekam den Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Lebenswerk, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, in Baden-Württemberg trägt eine Grundschule ihren Namen. Boie wird von Literaturwissenschaftlern als „scharfe Beobachterin der Alltagswelt der Kinder und Jugendlichen“ bezeichnet.
Fantasy: Boie braucht „Bezug zur Realität“
Mit ihren Büchern für Kinder und Jugendliche hat Boie schon verschiedene Genres ausprobiert. Nur Fantasy nicht. Aber das wird wohl auch so bleiben, sagt sie. „Ich habe bisher immer gedacht, es ist nicht meins. Weil ich schon einen starken Bezug zur Realität brauche.“ Generell ausschließen will sie es aber nicht. „Ich lasse mich auch gern selbst von mir überraschen.“
Weniger überraschend ist dagegen das starke Engagement der einstigen Lehrerin und Kinderbuchautorin für das Lesen. „Es ist eine Katastrophe, wenn etwa 20 Prozent unserer Jugendlichen nicht so lesen können, dass sie verstehen, was sie lesen.“ Das lässt die Hamburgerin mit der sanften Stimme beinahe verzweifeln, „weil es sie in ihrem künftigen Leben so sehr einschränkt“. Damit seien die Kinder an den Rand der Gesellschaft gedrängt – „und dort suchen sie dann als Erwachsene die Sündenböcke – zum Beispiel unter Zuwanderern oder Frauen – dafür“.
„Hamburger Erklärung“ will Lesen und Vorlesen in die Politik bringen
Seit Jahrzehnten macht sie sich deshalb für das Lesen und Vorlesen stark. Um das Thema stärker in die Politik zu rücken, hat Hamburgs neueste Ehrenbürgerin die „Hamburger Erklärung“ mit ins Leben gerufen. Fast 120000 Menschen haben die Petition an das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits unterzeichnet. „Lesen ist die Eingangstür, das Nadelöhr in die Gesellschaft. Davon hängt alles ab.“ Da sei nicht nur das Schulsystem, sondern auch Eltern und Kitas gefordert.
Ihren runden Geburtstag wird sie nicht groß feiern, sagt Boie. Sie wird mit ihrer Familie essen gehen. Große Wünsche habe sie nicht. „Ich bin tatsächlich so zufrieden und sogar glücklich mit meinem Leben wie es ist. Es ist so viel mehr Gutes passiert, als ich jemals erwartet hätte, dass es nicht nur unverschämt wäre, jetzt noch viele Wünsche zu haben, sondern dass ich die de facto nicht habe.“ Es dürfe aber gern so weitergehen, wie es jetzt ist. (dpa)