„Here to stay“: Zehn Jahre Lampedusa – Ein ganz irdisches Wunder
Im Frühjahr 2013 erreichte eine Gruppe Kriegsflüchtlinge Hamburg. Sie kamen aus Afrika über die italienische Insel Lampedusa in unsere Stadt und wollten bleiben. Italien hatte das Zeltlager der Männer ohne Vorwarnung geschlossen und die Männer aufgefordert, nach Norden zu ziehen. Das Schicksal der rund 300 Männer wurde zum Symbol der gescheiterten Flüchtlingspolitik der EU, aber auch zu einem Beispiel von Zusammenhalt und Nächstenliebe.
Die Sonne scheint durch die Fenster der St. Pauli-Kirche, Pastor Sieghard Wilm lächelt bei dem Gedanken daran, wie seine Gemeinde und er hier in diesem Raum 80 Flüchtlingen ein Zuhause gaben. „Es war wahrlich ein Abenteuer, das länger ging, als wir zuvor alle dachten“, erzählt Wilm und freut sich auf das Festival zum 10. Jahrestag diese spannenden Geschichte. „Here to stay“, lautet das Motto vom 2. bis 4. Juni.
„We are here to stay“, das war die unmissverständliche Forderung der Flüchtlinge. Italien hatte sie rausgeworfen, die Stadt Hamburg wollte sie nicht haben, sondern genau dahin wieder zurückschicken. Rein rechtlich sei man nicht zuständig, hieß es. So kam es, dass einige sich an einem Sonntag zum Gottesdienst im Michel aufmachten und um Gehör baten. Ihnen würde zugehört, aber erhört wurden sie noch nicht. Erst circa einen Kilometer weiter, in einem anderen Gotteshaus, sollte sich das ändern.
Auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf
Einige der Männer erinnerten sich an Sieghard Wilm, den Pastor, der sie in ihren aus Plastikplanen und Tüten gebastelten Zelten in Hamburgs Grün besuchte und ihnen Essen und Trinken in seiner Kirche auf St. Pauli anbot. Also zogen sie los, die Reeperbahn rauf, Richtung Elbe in den Garten der evangelisch-lutherischen Gemeinde. Dort saß Wilm, ebenfalls grade fertig mit dem Gottesdienst, beim Kaffee mit einigen Nachbarn. „Auf einmal standen sie da, es wurden immer mehr, wir haben Stühle und Tische organisiert, Getränke und Kuchen, es wurde eine Riesentafel unter den Linden, und wir kamen ins Gespräch“.
Schnell war klar: Nur eine sonntägliche Kaffeetafel löste das Problem der obdachlosen Flüchtlinge nicht, und als es zu regnen begann, beschloss Pastor Wilm zu handeln. Er öffnete die große Holztür des Backsteinbaus und hieß die Männer im Tonnengewölbe seiner Kirche willkommen. „In Notfällen muss sofort entschieden werden, dazu bin ich da, dazu ist Kirche da“. Natürlich bedurfte es hinterher vieler Absprachen mit seinem Kirchenrat, aber „wir stimmten immer wieder darüber ein, dass es die einzig richtige Entscheidung war“. Es ahnte ja auch noch niemand, dass aus den paar Tagen Monate wurden. Monate, in denen die Menschen aus der ganzen Stadt ein kleines Wunder vollbrachten.
Die Stadt fühlte sich nicht zuständig: Abschiebung aller Kriegsflüchtlinge
„Anfangs war ich davon überzeugt, dass die Behörden in wenigen Tagen eine alternative Unterbringung vorschlagen würden, aber nichts geschah“. Dem Pastor wurde lediglich nahegelegt, bei der erkennungsdienstlichen Behandlung zu helfen und die Menschen in einen Bus zu laden, um diese abzuschieben. Für Wilm keine Alternative. Also blieb das Kirchenschiff das Zuhause rund 80 junger Männer. 120 andere waren zuvor von Nachbarn und Menschen aus der ganzen Stadt aufgenommen worden.
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Es wurde Essen gekocht, Wäsche gewaschen und gespendet. „Geld, Matratzen, Kleidung, Lebensmittel, Kosmetika, Bücher, Spiele und und und“, erinnert sich Wilm. In ganz Hamburg gingen die Menschen auf die Straße, um für die Rechte der Flüchtlinge zu demonstrieren, ja, dafür, dass diese rund 300 Männer überhaupt ein Recht darauf bekamen, in der Stadt zu bleiben. Im Viertel schien es niemanden zu geben, der nicht mithalf, organisierte oder sich mit den neuen Nachbarn solidarisierte. „Nur ein einziges Mal standen plötzlich Neonazis vor dem Kirchenhof“ erinnert sich Wilm. Daraufhin kamen nachts Türsteher aus dem Viertel und taten das, was sie am besten können. Sie bewachten die Tür. Andere spendeten einen Duschwagen. „Das ist eine teure Angelegenheit, aber wir haben uns so gefreut, zuvor gab es nur zwei Waschbecken für 80 Männer, da war ganz schön was los“, schmunzelt Wilm.
Wenn Gemeinschaft stärker ist als der Staat
„Wir waren zu jeder Zeit handlungsfähig, alles war freiwillig, alles lief über Spenden, nicht einen Cent Kirchensteuer haben wir verwendet“, erinnert sich der Pastor heute noch stolz. Letztendlich blieben die jungen Männer bis Ende Oktober Gäste der Kirche in St. Pauli. Dann war den Hamburgern nämlich ihr Wunder gelungen. Die Flüchtlinge bekamen ein dauerhaftes Bleiberecht, obwohl es dafür, laut Stadt, vorher angeblich keine rechtliche Möglichkeit gab.“ Wer kann dem Staat denn ein kritisches Gegenüber sein? Die Kirche kann es, zusammen mit der Gemeinschaft“, resümiert Pastor Wilm. „Wir haben alle zusammen ein Stück Geschichte geschrieben“.
Wie die Geschichte dieser Menschen in Hamburg weiterging, erfährt man auf dem Festival an diesem Pfingstwochenende. „Here to stay“ lädt alle ein, zu feiern und neue Geschichten zu schreiben und sich über den gemeinsamen Weg auszutauschen. Viele der ehemaligen Flüchtlinge leben noch auf dem Kiez, trainieren Jugendliche im Basketball, haben Kinder oder führen ein Café und sind mit Leib und Seele Hamburger geworden. Ein Festgottesdienst, eine Lesung, Musik vom DJ und eine beeindruckende Fotoausstellung der Künstlerin Maria Feck, welche die Menschen zeigt, kurz nachdem sie das Tonnengewölbe ihr Zuhause nannten, sind einige der Programmpunkte des zehnjährigen Jubiläums. Mittelpunkt ist natürlich wieder das Herz des Viertel: die Kirche auf St. Pauli. Alle Informationen rund um das Festival sind auf der Internetseite der Gemeinde zu finden. „Absolut jeder ist uns herzlich willkommen“, lächelt Pastor Wilm.