17-Jähriger hingerichtet: Meine Ur-Oma hat diesen Jungen auf dem Gewissen
Stellen Sie sich vor, Sie sind noch Schüler, und im Geschichtsunterricht erzählt Ihnen der Lehrer von einem 17-jährigen polnischen Jungen, der in der NS-Zeit als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof ganz in Ihrer Nähe schuften musste und der dann hingerichtet wurde, weil die Bäuerin ihn der Brandstiftung bezichtigte. Stellen Sie sich dann weiter vor, Sie kommen aus der Schule heim, erzählen Ihrer Mutter von diesem furchtbaren Unrecht – und dann sagt die Ihnen allen Ernstes: „Die Bäuerin – das war Deine Urgroßmutter!“
Sie wären ganz schon schockiert, nicht wahr? Und möglicherweise würde Sie diese Geschichte Ihr ganzes Leben nicht mehr loslassen. Immer wieder würden Sie sich fragen, warum die Ur-Oma so handelte? Ob sie es irgendwann mal bedauert hat? Und wie sie umgegangen ist mit ihrer Schuld?
Stefan Weger verarbeitet fotografisch die Taten seiner Ur-Oma
Genau so ergeht es Stefan Weger, einem 35-jährigen Fotojournalisten, der aus der Nähe von Bremen stammt und heute in Berlin lebt. Das Wissen, Nachfahre einer Täterin zu sein, verarbeitet er auf eine Weise, die ihm besonders vertraut ist: fotografisch. Er hat ein viel beachtetes Fotobuch herausgebracht, dessen Titel „Luise. Archäologie eines Unrechts“ lautet. Am Donnerstag (12. November) wird in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine Ausstellung Wegers eröffnet, die denselben Titel trägt. Ein fotografisch-künstlerisches Projekt. Ungewöhnlich. Und sehr sehenswert!
Walerjan Wróbel – so hieß der 17-Jährige, den Wegers Ur-Oma Luise auf dem Gewissen hat. Er wuchs im Dorf Falków südlich von Warschau in einfachen bäuerlichen Verhältnissen auf. Er war ein bisschen zurückgeblieben, Schule mochte er nicht, hatte immer nur Quatsch im Kopf, musste mehrfach die Klasse wiederholen.
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Fünf Tage später griffen deutsche Bomber auch das Dorf Falków an. Zahlreiche Häuser, darunter das der Wróbels, wurden zerstört. Die Dorfbewohner hausten von da an in den Trümmern oder kamen bei Nachbarn oder Verwandten unter.
Walerjan Wróbel wird nach Bremen verschleppt
Weil immer mehr deutsche Männer an der Front kämpften, rekrutierten die Nazis in den besetzten Gebieten junge Männer und Frauen als Zwangsarbeiter. Im April 1941 wurde der Dorfschulze von Falków gezwungen, eine Gruppe von „Freiwilligen“ zu benennen. Er setzte Walerjan und dessen Freund Czeslaw Dabrowski auf die Liste. Von Freiwilligkeit konnte keine Rede sein.
Walerjan Wróbel wurde nach Bremen gebracht und dem Hof der Familie Martens in Lesum zugeteilt. Dort war der Bauer, Stefan Wegers Ururgroßvater, gerade gestorben und eine Arbeitskraft wurde dringend gebraucht. Walerjan sprach kein Deutsch, konnte sich nicht verständigen, hatte großes Heimweh.
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Dann kam der 29. April 1941: Was da passierte, schilderte Luise Martens, Wegers Ur-Oma, in ihrer Aussage bei der Gestapo so: Sie habe im Garten gearbeitet, sei dann ins Haus gegangen, um einen Schraubenschlüssel zu holen. Da habe sie es in der Scheune knistern gehört. Feuer! Für sie ist gleich klar: Der Pole hat den Brand gelegt. Warum? Sie hat keine Ahnung. Grund, an der Familie Rache zu nehmen, habe Walerjan jedenfalls nicht gehabt, sagt sie. „Er hat immer sehr gutes und ausreichendes Essen erhalten, genauso wie wir es hatten.“
Hamburgs Henker Friedrich Hehr waltet am 25. August 1942 seines Amtes
Obwohl Walerjan sogar beim Löschen der Scheune geholfen hatte, wurde er aufgrund dieser Aussage von der Gestapo verhaftet, zunächst ins KZ Neuengamme gesteckt und schließlich am 8. Juli 1942 in Bremen zum Tode verurteilt. Am 25. August 1942 waltete Friedrich Hehr, der Henker von Hamburg, seines Amtes. Im Gefängnis Holstenglacis beendete um 6.15 Uhr das Fallbeil das Leben des 17-jährigen Jungen.
Die Familie Wróbel in Falków erfuhr erst 1984, wie Walerjan zu Tode kam. 1992 hatte der Film „Das Heimweh des Walerjan Wróbel“ in den Kinos Premiere. Irgendwann in den Jahren danach wurde das Schicksal des Jungen Gegenstand des Geschichtsunterrichts in der Klasse von Stefan Weger.
„Was sich bei mir am meisten eingebrannt hat“, so schreibt er in seinem Buch „Luise. Archäologie eines Unrechts“, „war nicht der Inhalt des Unterrichts, sondern der Satz meiner Mutter: ,Du weißt, dass das Luise war?‘“
Weger hat seine Urgroßmutter noch kennengelernt. Als er 1986 zur Welt kam, war sie schon 80 Jahre alt. „Wenn ich an die wenigen gemeinsamen Jahre zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an die seltsame Aura, die sie umgab. In ihrer Nähe waren alle irgendwie anders. Meine Oma hingegen, die ich sehr liebte, kannte ich als Pol der Ruhe und Freude. Doch wenn Luise zugegen war, war es damit vorbei.“ Luise starb 2005 mit 99 Jahren.
„Unwohlsein heißt: Bewusstmachung, Wahrnehmung und Nicht-Vergessen“
2018 begann Weger, sich mit dem Tod Walerjan Wróbels und mit der Rolle zu beschäftigen, die seine Ur-Oma dabei spielte. Nicht alle in Wegers Familie waren davon begeistert. „Ja, es gab auch Verwandte, die fragten, ob das wirklich nötig sei“, erzählt er. „Ob es nicht besser wäre, diese alte Geschichte ruhen zu lassen.“
Doch Weger ließ sich nicht beirren. Es entstand ein dichtes visuelles Porträt einer Familiengeschichte im Nationalsozialismus, das um Vergessen und Bewusstmachung kreist. Weger trug Familienfotos zusammen, erkundete das seit Jahrzehnten zugewachsene Gelände, auf dem der alte Bauernhof der Ur-Oma stand. Er besuchte sogar Falków, Walerjans Heimatort. Dort beschlich Weger ein Gefühl von Unwohlsein: „Nie fühlte ich mich mehr als Fremdkörper“, schreibt er, „auch wenn die Frau beim örtlichen Pizzaladen unglaublich freundlich“ gewesen sei.
Weger findet, dass Unwohlsein ein gutes Gefühl ist. „Unwohlsein heißt nicht: Schuld und Verdammnis. Diejenigen, die wirklich Schuld tragen, gibt es kaum noch. Unwohlsein heißt: Bewusstmachung, Wahrnehmung und Nicht-Vergessen. Wohl genutztes Unwohlsein führt – bestenfalls – zu Dialog und Versöhnung. Für mich soll diese Arbeit ein erster Schritt dorthin sein.“
Zu sehen ist die Ausstellung „Luise. Archäologie eines Unrechts“ bis zum 13. März 2022, und zwar hier: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Jean-Dolidier-Weg 75, Hamburg.