Unglück mit sieben Toten: „Ich überlebte die Dom-Katastrophe vor 40 Jahren“
2,50 Mark kostet die Fahrt, die für einige mit dem Tode enden wird. Lichter blinken. Aus den Lautsprechern trällert Musik. „And the lights all went out in Massachusetts“, singen die Bee Gees. In den Gondeln sitzen gut gelaunte Menschen: Paare, die sich küssen, Leute, die lachen, die kreischen und schreien – zunächst vor Begeisterung, dann nur noch vor Schmerz. „Skylab“, das Looping-Flugkarussell, steigt höher und höher. Dann kracht Metall auf Metall. Es ist die Nacht vom 13. auf den 14. August 1981: Der Hamburger Dom erlebt sein schlimmstes Unglück. Sieben Tote, 16 Verletzte. 40 Jahre sind seither vergangen, auf den Tag genau.
Vincenzo Maniscalco ist heute „Nachtwächter von St. Pauli“. Er führt Touristen über den Kiez, ist dafür bekannt, immer einen Witz in petto zu haben. Maniscalco ist Komiker durch und durch, aber wenn er von dieser Nacht erzählt, dann wird er ernst. Sehr ernst.
Vincenzo Maniscalco: Er überlebt die Katastrophe mit großem Glück
„Ich war 23 und habe gedacht, mein Leben ist zu Ende. Ich weiß noch genau, was mir alles durch Kopf geschossen ist in diesen Sekunden: Dass es doch nicht sein kann, dass ich jetzt sterbe, denn dann fällt ja meine Reise nach Australien aus, auf die ich mich so sehr freute. Im nächsten Moment tröstete ich mich damit, dass ich wenigstens Schulden hinterlasse und nicht etwa noch Guthaben auf dem Konto habe. Wäre ja schade drum, fand ich.“
Der Mann, der verantwortlich ist für das Unglück, auch wenn er das bis heute nicht so richtig wahrhaben will, heißt Norbert Witte. Er ist damals 26 Jahre alt, gilt, weil er viele große und spektakuläre Fahrgeschäfte betreibt, als „König der Schausteller“. Sein „Katapult“ ist, so schreibt das „Abendblatt“, die „heißeste Achterbahn der Welt“. Beschleunigung in nur vier Sekunden von null auf 80. Das ist wie Fliegen.
Am Abend des 13. August 1981 hat Witte allerdings ein Problem: Das Getriebe ist kaputt. Und damit beginnt sie: die Verkettung unglücklicher Umstände, die zur Katastrophe führen wird.
Weil ein Geschäft, das nicht läuft, nur Verluste einfährt, setzt Witte alles daran, dass der Schaden bis zum darauffolgenden Nachmittag behoben ist. Sofort beginnen seine Mitarbeiter damit, das Getriebe zu demontieren. Es ist kurz vor ein Uhr und Witte davon überzeugt, dass das „Skylab“ nebenan schon Feierabend hat, da startet er seinen Autokran, hebt das defekte Getriebe aus der Verankerung und stellt es in einer Gasse neben dem Fahrgeschäft ab. Anschießend lässt er den Teleskopkran stehen, wie er ist – ausgefahren auf 28 Meter.
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Nur wenige Minuten noch, bis es knallt.
Maniscalco: „Ich zog meine Beine ganz eng an mich ran – sonst wären sie ab gewesen“
Vincenzo Maniscalco, damals Angestellter in einer Druckerei, ist in dieser Nacht nicht auf dem Dom, um sich zu amüsieren, sondern weil er seine Frau abholen will. Die arbeitet in der Dom-Bäckerei, verkauft dort Apfeltaschen und Berliner. „Als ich zum Stand kam, war es etwa Viertel vor eins. Weil sie noch nicht fertig war, bat sie mich, doch noch ein bisschen herumzulaufen und um 1.15 Uhr wiederzukommen.“
Bei seinem Bummel fällt Maniscalco Norbert Wittes Kran auf, aber er denkt sich nichts weiter dabei. Der Koberer vom „Skylab“ gleich daneben ruft: „Die letzte Fahrt, die letzte Fahrt, jetzt noch zusteigen, die letzte Fahrt!“ Maniscalco entscheidet sich: „Da steigst du ein.“
Es dauert ein bisschen, bis es losgeht. Maniscalco wird ungeduldig, schaut auf die Uhr. Er will ja schließlich seine Frau nicht verpassen. Im selben Augenblick beginnt sich das Karussell zu drehen, schneller und schneller, die Gondeln steigen höher und höher und höher. Und niemandem fällt auf, dass da was im Wege ist.
„Plötzlich bebte und zitterte alles“, erinnert sich Vincenzo Maniscalco. „Das Bodenblech der Gondel, in der ich saß, wurde einfach weggerissen.“ Er ist überzeugt, eine Bombe sei explodiert. „Ich hielt mich mit beiden Armen fest, die Beine habe ich ganz dicht an mich herangezogen. Das war auch gut so, denn sonst wären sie ab gewesen.“
„Es war Blut überall. So viel Blut hatte ich noch nie gesehen“
Einige der Gondeln werden vom Teleskopkran regelrecht aufgerissen: Menschen stürzen aus 15 Meter Höhe in die Tiefe. Sigrid Christiansen (18) aus Tarup bei Flensburg, eine angehende Kinderkrankenschwester, stirbt. Gabi Littkewitz (18) – sie macht eine Ausbildung zur Apothekenhelferin – hat ebenfalls keine Chance. Noch vier weitere junge Menschen kommen ums Leben. Ein siebtes Opfer erliegt später im Krankenhaus den furchtbaren Verletzungen.
„Überall war Blut“, sagt Vincenzo Maniscalco. „So viel Blut hatte ich noch nie gesehen!“ Er selbst ist mit ein paar Prellungen und Kratzern davongekommen. Der Mann, der gemeinsam mit ihm im Rettungswagen zum Hafenkrankenhaus gebracht wird, ist dagegen schwer verletzt: „Das Fleisch war ihm vom Arm regelrecht runtergeschält und hing als Klumpen in Richtung Hand. Das sah furchtbar aus, aber der Mann sagte, Schmerzen habe er nicht.“
Was für ein Horror.
Als vor Gericht geklärt werden soll, wer Schuld trägt an dem Unglück, ist Maniscalco ein wichtiger Zeuge. Von entscheidender Bedeutung ist der genaue Zeitpunkt, wann das „Skylab“ seine letzte Fahrt begonnen hat. Vor ein Uhr? Oder danach?
Von Vincenzo Maniscalcos Zeugenaussage hängt am Ende alles ab
Die Regel auf dem Dom besagt damals, dass ein Fahrgeschäft bis Mitternacht geöffnet haben muss und bis ein Uhr geöffnet haben kann. Hat also die letzte Fahrt des „Skylab“ vor eins stattgefunden, ist dem Betreiber eigentlich kein Vorwurf zu machen.
Der Einzige, der die Uhrzeit ganz genau kennt – weil er ja noch auf die Uhr gesehen hat, als es gerade losging – ist Vincenzo Maniscalco. Und er sagt aus: „Es war 0.54 Uhr. Definitiv.“ Vor eins also. Norbert Witte musste demnach damit rechnen, dass das Nachbarfahrgeschäft noch in Betrieb ist.
Er wird vor Gericht vertreten von einem der bekanntesten deutschen Strafverteidiger, von Rolf Bossi, der auch schon Frauenmörder Fritz Honka verteidigt hat. Aber auch der kann nicht verhindern, dass Witte wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt wird. Ein Jahr auf Bewährung.
Das klingt milde angesichts von sieben Todesopfern. Aber für Witte bedeutet es einen tiefen Fall: Sein Ruf als Rummelkönig ist ruiniert. Er bekommt sogar Morddrohungen. Da die Versicherung nicht zahlt, haftet er mit seinem Privatvermögen – und ist jetzt auch noch pleite, verliert seine Geschäftsfähigkeit.
Für „Rummelkönig“ Norbert Witte bedeutet das Unglück den total Absturz
Um an Geld zu kommen, verkauft Witte das „Katapult“. Weil ihm kein Jahrmarkt mehr einen Standplatz geben will, verlässt er das Land und tingelt jahrelang mit seinen übrigen Fahrgeschäften durch Italien und Jugoslawien.
Kurz nach dem Mauerfall siedelt er sich in Berlin an, wo sich die von seiner Frau vertretene Firma Spreepark GmbH um die Übernahme des einzigen Freizeitparks der DDR bewirbt. Witte will daraus eine Vergnügungsstätte machen, die sogar das „Phantasialand“ bei Köln in den Schatten stellt. Er träumt davon, wieder Schaustellerkönig zu sein, geachtet und respektiert.
Doch es ist, als wenn alles, was Witte anfängt, zum Scheitern verurteilt ist. Der Freizeitpark läuft nicht. Ende 2001 wird Insolvenz angemeldet. Im Jahr darauf titeln Berliner Zeitungen: „Flucht!“ Dreist hat Witte seine Fahrgeschäfte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abbauen, in Container packen und nach Peru verschiffen lassen. Witte ist auf und davon. Elf Millionen Euro Schulden hinterlässt er dem Land Berlin.
Witte flieht nach Peru – und lässt sich dort mit der Dogenmafia ein
Was er vorhat? Diesmal will er einen Freizeitpark in Peru gründen. Doch auch dieser Plan erweist sich als wenig durchdacht. Witte geht erneut baden. Und dann ist er auch noch so verrückt, sich mit der peruanischen Drogenmafia einzulassen. 167 Kilo Kokain will Witte über Holland nach Deutschland schmuggeln – und zwar versteckt im Stahlmast seines „Fliegenden Teppichs“. Kapital für einen Neustart in Berlin.
Der Coup fliegt auf, noch bevor das Schiff mit den Drogen den Hafen verlassen hat. Witte selbst hat Glück, dass er in Deutschland festgenommen wird: So kommt er mit sieben Jahren Gefängnis davon. Seinen Sohn, der in Lima verhaftet wird, trifft die volle Härte der peruanischen Justiz: Ihm werden 20 Jahre Zuchthaus aufgebrummt.
Norbert Wittes Leben erinnert an eine Achterbahnfahrt. Vom Schaustellerkönig zum Drogenkurier: ein Absturz mit rasender Geschwindigkeit.
Und heute? Einige Herzinfarkte hat er überstanden, ist nach wie vor Schausteller, allerdings in etwas kleineren Dimensionen als früher. Seine Freundin hat einen Crêpes-Stand, Kinderfahrgeschäfte und einen Mäusezirkus – und da hilft er mit.
Seine Schuld am Dom-Unglück hat Witte bis heute nicht eingestanden
Über das Dom-Unglück vor 40 Jahren redet Witte nur ungern. Und wenn doch, dann erzählt er seine ganz eigene Version: Er betont, dass er das Urteil, das der Richter damals fällte, bis heute nicht anerkenne. Er sei sicher gewesen, dass das „Skylab“ bereits den Betrieb eingestellt hatte. Sonst hätte er doch seinen Teleskopkran gar nicht ausgefahren. Ist doch klar. „Aber dann haben die den Laden wieder geöffnet für eine letzte Fahrt.“
Als es dann plötzlich knallte, sei er hintenrum in die Kasse des „Skylab“ gelaufen und habe den Notstop betätigt und habe anschließend Fahrgäste aus den Gondeln gezogen. Zu all dem sei die „Skylab“-Chefin gar nicht mehr fähig gewesen. Die habe besoffen an ihrem Pult gesessen, sei dann sogar abgehauen.
So hat es sich laut Witte abgespielt. Aber verurteilt wurde trotzdem er. Und dass die Frau vom „Skylab“ besoffen war, wurde nie bewiesen.
40 Jahre danach hört Vincenzo Maniscalco noch den ohrenbetäubenden Krach, den er für Bombenexplosionen hielt. Er sieht noch das Blut vor sich. Spürt die Todesangst, die er hatte. Heute fährt er wieder Karussell und Achterbahn. Sehr gerne sogar. „Es kann mir gar nicht schnell genug gehen“, sagt er und lacht.
Aber es hat lange gedauert bis dahin.
Maniscalco leidet noch viele Jahre unter furchtbaren Albträumen
Denn viele Jahre ist er die Albträume nicht losgeworden. Furchtbar seien sie gewesen. Fast noch schlimmer, noch intensiver als die Realität.
Über das Unglück zu reden, fiel ihm lange schwer. Mindestens vier, fünf Jahre war es ihm nicht möglich, ein Karussell zu besteigen. „Einmal hab’ ich’s probiert. Aber das Gekreische der Leute erinnerte mich sofort an die Schreie in dieser Nacht. Ich bekam panische Angst, war schweißgebadet.“
Unser Tipp: „Koks & Zuckerwatte“ ist ein Doku-Podcast über den Niedergang von Schaustellerkönig Norbert Witte. Sehr hörenswert. Überall dort, wo es Podcasts gibt