Familientragödie aus Hamburg: „Wie ich erfuhr, wer mein Vater wirklich war“
„Es muss doch endlich mal Schluss sein. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Das ist doch alles schon so lange her.“ Solche Forderungen werden immer wieder mal erhoben. Wie sehr die Verbrechen der Nationalsozialisten unser aller Leben bis heute prägen, nicht nur das unserer Eltern und Großeltern, sondern auch das der Nachgeborenen, und wie wichtig es ist, sich zu erinnern, das zeigt sehr eindrucksvoll ein biografisch-dokumentarischer Roman, der jetzt im Buchhandel erschienen ist: „Meines Vaters Heimat“ heißt er.
Darin erzählt der Schwede Torkel S. Wächter (60) von seinem Vater Michaël Wächter, der Zeit seines Lebens nichts über seine Vergangenheit erzählen wollte. Schon als kleiner Junge weiß Torkel zwar, dass sein alter Herr aus Deutschland stammt, aus Hamburg. Zweimal, 1974 und 1981, begleitet er ihn sogar dorthin. Aber allen Fragen nach Details aus seinem früheren Leben weicht Michaël Wächter aus. Und reagiert gereizt, wenn der Sohn insistiert.
1983 stirbt der Vater. Torkel packt den gesamten Nachlass – Bücher, Manuskripte, Briefe und Tagebücher – in Umzugskartons, stellt sie auf dem Dachboden ab und – vergisst sie. Bis ihm 17 Jahre später seine Mutter ein altes Foto zuschickt, das Torkels Großeltern, die Eltern seines Vaters, zeigt. Noch nie hat er dieses Foto gesehen. Er wusste bis dahin gar nichts über seine Oma und seinen Opa, nicht einmal, wie sie aussahen.
Torkel S. Wächter ist 20 Jahre den Spuren seines Vaters gefolgt, über vier Kontinente
Nun ist Torkels Neugier geweckt. Er steigt auf den Dachboden, wischt dicken Staub von den Kartons, kramt in den Unterlagen seines Vaters und stößt auf Briefe, die ein gewisser Walter Wächter 1935 aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel an Eltern und Geliebte geschrieben hat. Auch Schulzeugnisse dieses Walter Wächters sind dabei. Das Seltsame ist: Walter Wächter ist am selben Tag geboren wie Michaël Wächter. Erst fragt sich Torkel, ob sein Vater vielleicht einen Zwillingsbruder hatte. Bis ihm klar wird: Walter und Michaël – das sind ein und dieselbe Person.
Als Berufspilot hat Torkel S. Wächter schon häufiger Hamburg angeflogen und er erinnert sich, dass er sich in dieser Stadt immer merkwürdig fühlte, schlecht schlief, böse Träume hatte. Hatte er instinktiv gespürt, dass es hier ein böses Familiengeheimnis gibt? Er begreift, dass er schon lange unter einer Art Krankheit leidet, er nennt sie: Second Generation Stress Disorder (SGSD). Damit ist gemeint, dass ein Trauma, wie es Überlebende des Holocaust erlitten, auf die nächste Generation weitergegeben wird. Und das einzige Medikament dagegen ist: Erinnerung.
Er lernte Deutsch, um die Briefe seines Vaters lesen zu können
Und so beginnt sie: Die Suche nach der Geschichte seines Vaters, die auch die Suche nach seiner eigenen Identität ist. Zwei Jahrzehnte lang lässt Torkel nicht locker, lernt – um die Briefe seines Vaters lesen zu können – die deutsche Sprache, bereist auf den Spuren seiner Familie vier Kontinente, lässt sich von einem Rabbiner ins Judentum einweisen, besucht die Synagoge.
Und er hält sich natürlich immer wieder in Hamburg auf: Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unterstützen ihn bei der Recherche. Mitglieder eines Sütterlin-Arbeitskreises helfen ihm dabei, Handschriften zu entziffern. Anfangs begegnet Torkel den Deutschen mit Misstrauen. Gerade den älteren. Er fragt sich, was hat dieser oder jener Mensch wohl vor 1945 gemacht. Aber nach und nach fasst er Vertrauen. Freundschaften entstehen.
Schließlich setzt sich Torkel S. Wächter hin und schreibt die Geschichte seines Vaters auf. Er tut es vor allem für seine Kinder. Denn sie sollen das Trauma nicht weitertragen.
Vater Walter Wächter ist Jude und Sozialist und wird im KZ Fuhlsbüttel schwer gefoltert
Eindrucksvoll und packend beschreibt Torkel, wie sein Vater – geboren 1913 – als Sohn von Minna und Gustav Wächter am Eppendorfer Weg aufwächst. Die Eltern sind Juden. Der Vater ist ein deutscher Beamter durch und durch, er arbeitet beim Finanzamt und verliert 1933, als die Nazis an die Macht kommen, seinen Posten – und später noch sehr viel mehr.
Walter Wächter ist ein sportlicher Junge, der erst beim HSV Fußball spielt, 1929 aber, als die antisemitische Hetze unerträglich wird, aus dem Verein austritt und sich dem Arbeitersportklub Fichte Eimsbüttel anschließt (heute SV Grün-Weiß Eimsbüttel).
Walter Wächter wird Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und leistet als überzeugter Sozialist in der Nazi-Zeit engagiert Widerstand. 1935 wird er sieben Monate ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel (Kola-Fu) gesperrt und auf furchtbarste Weise gequält und gefoltert. Aufseher schlagen ihm Zähne aus, er sieht mit an, wie andere Gefangene eiskalt ermordet werden. Die Briefe Walter Wächters an seine Verlobte und seine Familie aus der Haft sind erhalten – ein eindrucksvolles Stück Zeitgeschichte.
1936 wird Walter Wächter vom Hanseatischen Oberlandesgericht wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Beteiligung am kommunistischen Widerstand“ zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Als er die Zeit abgesessen hat, wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und er bekommt von der Gestapo eine Frist von 14 Tagen, das Land zu verlassen.
In Schweden ändert Walter Wächter seinen Vornamen in Michaël
Auf Umwegen über Italien und Ungarn landet er schließlich in Schweden, wo Walter Wächter einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zieht. Als Michaël Wächter studiert er Psychologie, wird Hochschuldozent, arbeitet als Autor und Journalist, wird ein bekannter Intellektueller in Schweden. Insgeheim sehnt er sich immer nach Deutschland, aber er vermeidet es, über sein erstes Leben zu reden. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen wohl.
Eindrucksvoll ist auch das Schlusskapitel in Torkel S. Wächters Buch. Das widmet er seinen Großeltern. Denn während Sohn Walter nach Schweden emigriert und es den anderen beiden Söhnen gelingt, sich in Brasilien bzw. Argentinien ein neues Leben aufzubauen, werden Minna und Gustav Wächter zu Opfern der Shoah. Die Nazis deportieren sie am 6. Dezember 1941. Ziel: das KZ Jungfernhof in der Nähe von Riga. Es handelt sich um den Vorhof zur Hölle. Dort verlieren sich die Spuren von Torkel Wächters Großeltern.
Ihr Enkel Torkel S. Wächter hat inzwischen neben der schwedischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Kinder besuchen die deutsche Schule in Stockholm. In ihnen glaubt er, seine Großeltern wiederzuerkennen. „Sie haben Minnas Augen und Gustavs Optimismus geerbt“, sagt er. Torkels Identitätskrise ist überwunden, die Krankheit SGSD macht ihm nur noch selten zu schaffen. Er weiß jetzt, wer er ist, nämlich von allem ein bisschen: Schwede, Deutscher, Jude. Und das ist gut so.
„Meines Vaters Heimat“ ist ein äußerst lesenwertes und spannendes Buch
Torkel S. Wächters Buch „Meines Vaters Heimat – Was er mir nie erzählte“ ist im Verlag Langenmüller erschienen, hat 352 Seiten und kostet 22 Euro. Es ist äußerst lesenswert. Und wer anfängt, legt es erst weg, wenn er die letzte Seite gelesen hat.