Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
  • Dr. Lotte Albers, Kinderärztin am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Sie war an 14 Kindstötungen beteiligt.
  • Foto: Andreas Babel/hfr

Euthanasie-Ärzte in Hamburg: Aus dem Fotoalbum der Kindermörderin

Bilder von Frauen in Schwesterntracht und mit Häubchen im Haar, die sich scheinbar rührend um die kleinen Patienten kümmern. Daneben Fotos von Ärztinnen und Ärzten im weißen Kittel, die sich zum Gruppenbild aufstellen oder bei schönem Wetter im Garten Kaffee trinken. Auch Fotos von Trümmern finden sich. Es ist deutlich zu sehen: Der Zweite Weltkrieg, er ist in Rothenburgs­ort angekommen. Ab Juli 1943 dokumentieren die Aufnahmen, dass der Stadtteil praktisch ausgelöscht ist. Nur das Krankenhaus übersteht den Feuersturm schwer beschädigt.

Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers, die am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort arbeitete und der 14 Kindstötungen zugeschrieben werden. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers, die am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort arbeitete und der 14 Kindstötungen zugeschrieben werden.

All dies sind Fotos aus dem privaten Album der Kinderärztin Dr. Lotte Albers. Der Celler Journalist Andreas Babel (55), der die Geschichte des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort seit Jahren erforscht, hat sie entdeckt. Die Bilder geben uns einerseits eine Ahnung davon, wie es in dem Arbeiterviertel aussah vor der nahezu vollständigen Vernichtung. Andererseits zeigen sie den Alltag in einem Krankenhaus, das im Nationalsozialismus weniger eine Heilanstalt denn ein Tatort war. Viele von den Ärzten und Schwestern, in deren Augen wir da sehen, haben Morde begangen. Allein der Medizinerin Dr. Lotte Albers, die die Fotos schoss und der das Album gehörte, werden 14 Kindstötungen zugeschrieben.

Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers, die am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort 14 Kindstötungen selbst durchführte. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers, die am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort 14 Kindstötungen selbst durchführte.

Was die Nazis „Euthanasie“ nannten, war in Wahrheit eiskalter Mord

Heute ist in dem Backsteingebäude das Institut für Hygiene und Umwelt untergebracht. An die Kinder, die hier getötet wurden, erinnern zahlreiche Stolpersteine draußen auf dem Gehweg: Rita Ahrens, ermordet mit fünf. Siegfried, ein Findelkind ohne Nachnamen, erlebte nicht einmal den zweiten Geburtstag. Von Antje Hinrichs ist überliefert, dass sie ein freundliches und umgängliches Wesen hatte. Sie wurde 1943 wohl nur deshalb zu sogenannten „Irrenärzten“ abgeschoben, weil ihre Eltern, der Polizeibeamte Reinhold Hinrichs und seine Frau Gertrud, ausgebombt waren und sich nicht um das geistig zurückgebliebene Mädchen kümmern konnten. Antje war vier, als sie am 27. Oktober 1944 getötet wurde.

Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers: Hier dokumentiert die Kinderärztin die Schäden, die im Krieg durch den ersten Bombentreffer verursacht wurden. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers: Hier dokumentiert die Kinderärztin die Schäden, die im Krieg durch den ersten Bombentreffer verursacht wurden.

Euthanasie ist griechisch und bedeutet so viel wie „guter Tod“, „schöner Tod“. Was die Nazis Euthanasie nannten, war aber nicht gut. Es war eiskalter Mord. Begangen von Ärzten, die vergessen hatten, was der Auftrag von Medizinern ist: zu heilen.

Dabei war das Kinderkrankenhaus Rothenburgs­ort, zwischen 1917 und 1928 in mehreren Bauabschnitten an der Marckmannstraße errichtet, in der Weimarer Republik eine hoch angesehene medizinische Institution und wurde getragen von einem gemeinnützigen Verein, der vor allem Gutes tun wollte.

Klinikleiter Carl Stamm wurde 1933 aus dem Amt enfernt – er war Jude

Dass als Standort ein dicht bebautes Arbeiterwohnquartier gewählt wurde, in dem viele Menschen auf engstem Raum zusammenlebten, war kein Zufall. Ziel des Krankenhauses war es, die hohe Kindersterblichkeit einzudämmen. Arme Eltern konnten ihre Söhne und Töchter kostenlos behandeln lassen.

Dies war nur möglich aufgrund großen ehrenamtlichen Engagements der Mediziner. Besonders hervorzuheben ist dabei der Kinderarzt Dr. Carl Stamm. Viele Jahre arbeitete er ehrenamtlich für die Klinik und als Dank dafür erhielt er 1928 vom Hamburger Senat die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes.

Dr. Carl Stamm: 1933 drängten ihn die Nazis aus dem Amt. Er gehörte zu den Gründern des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Dr. Carl Stamm: 1933 drängten ihn die Nazis aus dem Amt. Er gehörte zu den Gründern des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort.

Stamm, ein Jude, wurde 1933 von den Nazis als Ärztlicher Leiter entlassen. Kurz bevor er deportiert werden sollte, starben er und seine Frau 1941 unter ungeklärten Umständen.

Zum neuen Chef des Kinderkrankenhauses wurde Dr. Wilhelm Bayer berufen, ein NSDAP-Mitglied. Ein Mann, der zutiefst überzeugt war von der Nazi-Rassenideologie, wonach alles „Kranke“ beseitigt werden muss. Im stetigen „Kampf ums Überleben“, so die wahnwitzige Vorstellung, kann sich nur jenes Volk bewähren, das seine Besten fördert und alles eliminiert, was das Volk schwächt … Sozialdarwinistischer Schwachsinn und pure Menschenverachtung.

Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers. Hier dokumentiert sie die nahezu vollständige Zerstörung von Rothenburgsort im Sommer 1943 Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Aus dem Fotoalbum von Dr. Lotte Albers. Hier dokumentiert sie die nahezu vollständige Zerstörung von Rothenburgsort im Sommer 1943

„Kinderfachabteilung“ nannten die Nazis die Tötungsanstalten

Diktator Adolf Hitler selbst war es, der den Befehl zur „Kinder-Euthanasie“ gab. Eine Gruppe NS-Mediziner – Tarnname: „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ – koordinierte ab 1939 direkt aus der Reichskanzlei den Massenmord. Alles musste konspirativ ablaufen, ohne Aufsehen, denn selbst nach den geltenden Gesetzen des Deutschen Reiches war „Euthanasie“ verboten.

Der Beginn der „Kinder-Euthanasie“ wird auf den 18. August 1939 datiert: An diesem Tag gab das Reichsinnenministerium einen streng vertraulichen Runderlass heraus, der Hebammen, Geburtshelfer sowie Haus- und Kinderärzte dazu verpflichtete, jedes behinderte Kind an den Reichsausschuss zu melden. Der entschied dann über Leben und Tod. Jedes Kind, das sterben sollte, wurde einer „Kinderfachabteilung“ zugeführt – so nannten die Nazis euphemistisch solche Krankenhäuser, in denen Ärzte und Schwestern bereit waren, den Tod der Kinder herbeizuführen. Belohnt wurden sie mit Sonderzulagen.

Laut Andreas Babel wurden im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort zwischen 1940 und 1945 mindestens 56 Kinder ermordet, vermutlich aber weit mehr. „Umgebracht wurden die Kinder immer mittags oder abends, weil das Zeiten waren, zu denen sich wenig Personal auf den Stationen befand“, so Babel. Denn nur ein Teil der Belegschaft war eingeweiht.

Aus dem Fotoalbum von Lotte Albers: Bilder, die den Alltag in der Kinderklinik zeigen. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Aus dem Fotoalbum von Lotte Albers: Bilder, die den Alltag in der Kinderklinik zeigen.

Nur ein Teil des Klinikpersonals war eingeweiht

„Während eine Schwester das todgeweihte Kind an Armen und Beinen festhielt, spritzte ein Arzt oder eine Ärztin eine Überdosis des Barbiturats Luminal – ein Epilepsie-Medikament – ins Gesäß oder in die Oberschenkelmuskulatur. Drei Tage dauerte der Todeskampf. Die Totenscheine wurden gefälscht. Zumeist wurde ,Lungenentzündung‘ als Todesursache angegeben.“

Das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort war nur eine von vielen „Kinderfachabteilungen“. Es gab sie in allen Teilen des Reiches. In Hamburg gehörte auch die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn (heute Asklepios Klinik Nord/Ochsenzoll) dazu. Zwischen 5000 und 10.000 Jungen und Mädchen, so die Schätzung, sind im Zuge des Kinder-Euthanasie-Programms oder während der Aktion T4 ermordet wurden – so wird die systematische Tötung von Männern und Frauen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen genannt.

Drei von mindestens 56 ermordeten Kindern: Gerhard Pribbenow (ermordet 4.7.1944), Findelkind Siegfried (ermordet 9.10.1944), Antje Hinrichs (ermordet 27.10.1944) Stiftung Alsterdorf
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Drei von mindestens 56 ermordeten Kindern: Gerhard Pribbenow (ermordet 4.7.1944), Findelkind Siegfried (ermordet 9.10.1944), Antje Hinrichs (ermordet 27.10.1944)

Es gab auch Ärzte und Schwestern, die es ablehnten, sich an diesen Verbrechen zu beteiligen. Buchautor Andreas Babel weiß von etlichen Medizinern auch am Kinderkrankenhaus Ro­thenburgsort, die an andere Kliniken wechselten, um sich nicht schuldig zu machen. Strafanzeige gegen die Täter aus Rothenburgsort hat nach dem Krieg nur ein einziger Arzt erstattet: Dr. Ernst Hermann Maier, geboren 1921 in Blankenese. Er war als junger Medizinstudent im April und Mai 1945 an der Klinik tätig.

Die Mörder-Ärzte wurden für ihre Taten nie bestraft

In seinem Brief an die Kripo Hamburg schreibt er am 26. Juni 1945 Folgendes: „Unter den Einrichtungen des Nationalsozialismus, die in besonderem Maße die erschreckenden Konsequenzen seiner Ideologie offenbarten, befand sich ein Ausschuss in Berlin, der sich zentral mit der Beseitigung unheilbar Kranker beschäftigte. Während die Mehrzahl der verantwortlichen Klinikleiter in Empörung solche Bestrebungen ablehnten, unterwarfen sich andere den Forderungen des Ausschusses und schädigten so nicht nur das Ansehen ihrer Klinik, sondern in hohem Maße das des ganzen ärztlichen Standes. Die Krankenhäuser dieser gewissenlosen Klinikleiter standen damit dem Ausschuss zur Einweisung von unheilbar Kranken offen.“

Hauptverantwortlich für den Kindermord: Dr. Wilhelm Bayer, der langjährige Leiter des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Hauptverantwortlich für den Kindermord: Dr. Wilhelm Bayer, der langjährige Leiter des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort.

Maier – er arbeitete später als Medizinprofessor an der Uni Kiel, wurde einer der führenden Kinderfuß-Experten – ließ keinen Zweifel daran, was ihn bewog, Anzeige zu erstatten: Er war empört darüber, dass Klinikleiter Bayer immer noch seinen Posten innehatte. Wegen Bayers autoritärer Machtstellung sei „an eine Selbstreinigung der unter seinem Willen stehenden Klinik nicht zu denken“, so schreibt Maier.

Der Mord an den Kindern von Rothenburgsort blieb ungesühnt. Zwar gab es Ermittlungen gegen Klinikleiter Bayer und die beteiligten Ärzte und Ärztinnen. Allerdings wurden sie geleitet ausgerechnet von Staatsanwalt Dr. Walter Tyrolf, der als „Blutrichter“ während der NS-Zeit an zahlreichen Todesurteilen beteiligt gewesen war. Und so verwundert es nicht, dass 1949 das Gericht zu dem Ergebnis kam, die beklagten Mediziner hätten nicht erkennen können, dass ihr Handeln Unrecht war.

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Alle fraglichen Mediziner praktizierten nach dem Krieg weiter, statt im Gefängnis zu sitzen. Bayer leitete bis 1970 eine Praxis am Schwanenwik. Seine Stellvertreterin Dr. Helene Sonnemann machte am Krankenhaus Celle Karriere. Dr. Lotte Albers, aus deren Fotoalben die Bilder stammen, betrieb ab 1952 eine Kinderarztpraxis am Harburger Schlossmühlendamm. Sie starb 1992.

Staatsanwalt Tyrolf heiratete eine der angeklagten Medizinerinnen

Der Jurist Dr. Walter Tyrolf. Im Krieg war er an mehreren Todesurteilen beteiligt. Nach dem Krieg führten seine Ermittlungen zum Freispruch für die angeklagten Mediziner und Medizinerinnen des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Später heiratete er eine der Angeklagten. Andreas Babel/hfr
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Der Jurist Dr. Walter Tyrolf. Im Krieg war er an mehreren Todesurteilen beteiligt. Nach dem Krieg führten seine Ermittlungen zum Freispruch für die angeklagten Mediziner und Medizinerinnen des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Später heiratete er eine der Angeklagten.

Und auch sonst machten alle weiter, als wäre nichts passiert: Dr. Ursula Petersen arbeitete bis zu ihrem Freitod 1980 auf der Veddel als Kinderärztin. Dr. Gisela Schwabe war am Geesthachter Krankenhaus tätig, starb 2010 im Alter von 92. Und die Ärztin Dr. Ingeborg Wetzel, die mindestens sechs Kinder getötet haben soll, praktizierte bis 1963 in einer Praxis an der Amtsstraße in Rahlstedt. Dann heiratete sie Dr. Walter Tyrolf – genau den Juristen, dessen Ermittlungen gegen die Mediziner mit einem Freispruch geendet hatten.

Andreas Babel: Kindermord im Krankenhaus. Die 3. und stark erweiterte Auflage des Buches ist soeben erschienen. Edition Falkenberg
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Andreas Babel: Kindermord im Krankenhaus. Die 3. und stark erweiterte Auflage des Buches ist soeben erschienen.

Andreas Babel (55), ein Journalist aus Celle, erfuhr 2009 davon, was die langjährige Chefärztin der Celler Kinderklinik, Helene Sonnemann, während des Zweiten Weltkrieges getan hatte: Als Ärztin in Rothenburgsort war sie besonders eifrig am Kinder-Mordprogramm beteiligt. Das Thema Kinder-Euthanasie ließ Babel von da nicht mehr los: 2015 erschien sein Buch „Kindermord im Krankenhaus“. Soeben ist die dritte, erheblich erweiterte Auflage erschienen. „Kindermord im Krankenhaus. Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder töteten“, Edition Falkenberg, 3. Auflage, 408 Seiten, 165 Fotos, Hardcover, 19,90 Euro. Andreas Babel hält Vorträge in Hamburg: Montag, 8. November 2021, ab 18 Uhr im Kulturschloss Wandsbek und am Dienstag, 16. November 2021, ab 19 Uhr in der St. Thomas-Kirche in Rothenburgs­ort. Voranmeldung ist nötig: Kulturschloss Wandsbek, Tel. 68 28 54 55; Kirchen­büro St. Thomas-Kirche Rothenburgsort, Tel. 73 09 18 29.

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