Judenverfolgung in Hamburg: Wie aus Klaus Heilbut Kenneth Hale wurde
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Westbury, ein Dorf auf Long Island, nur 30 Kilometer östlich von Manhattan. Hier im Umland von New York City lebt Kenneth Hale. Er ist 98 Jahre alt. Als er zur Welt kam, im Mai 1922 in Altona, lautete sein Name noch Klaus Heilbut. Darüber, wie aus ihm Kenneth Hale wurde, hat er jahrzehntelang nur selten gesprochen. Eine bewegende Geschichte, geprägt von Angst, Hoffnung – und dem Glück, überlebt zu haben. Anders als viele Freunde und Verwandte, die in der Gaskammer ihr Leben ließen.
Kenneth Hale alias Klaus Heilbut bekommt heute noch Gänsehaut, wenn er an die Pogrome des 9. November 1938 denkt, die sogenannte „Kristallnacht“, als in Hamburg – wie überall im Reich – die Synagogen brannten. Juden wurden verhaftet, misshandelt, erschlagen.
Kenneth Hale: „Ein Nazi warf ein Messer nach uns“
An diesem Tag sind er, damals 16, und Bruder Heinz, 18, mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs. Als sie angegriffen werden, treten sie aus Angst so fest wie nie zuvor in die Pedale, fahren um ihr Leben. „Ein Nazi warf ein Messer nach uns“, erzählt Kenneth Hale. „Erst als wir zu Hause ankamen, haben wir die Verletzungen im Gesicht meines Bruders bemerkt.“
An diesem Tag fasst Hella Heilbut, die Mutter der beiden Jungs, den Entschluss, das Land zu verlassen. So schnell wie möglich.
Hamburgs NS-Zeit: Holger Artus sucht nach Zeitzeugen wie Kenneth Hale
Es gibt nur noch ganz wenige Menschen, die aus eigener Anschauung vom Holocaust erzählen können. Dass mit Kenneth Hale jetzt unverhofft ein weiterer Zeitzeuge gefunden ist, liegt vor allem an ihm: Holger Artus (65). Viele Jahre war er Betriebsratsvorsitzender der MOPO.
Dass er mit ähnlichem Engagement, wie er früher für die Rechte der Arbeitnehmer kämpfte, heute Hamburgs NS-Zeit erforscht, ist eigentlich, wie er sagt, „Zufall“. „Irgendwann hörte ich davon, dass alle Bürger aufgerufen sind, die Stolpersteine in ihrer Straße zu putzen, also habe ich mich mit Wasser und Seife bewaffnet und mitgemacht.“ Welcher Stolperstein das war, weiß er natürlich noch: „Weidenallee 32, der Stein von Bernhard und Martha Katz.“
Seit diesem Tag lässt Holger Artus die NS-Geschichte nicht mehr los. Er will ganz genau wissen, was damals geschah in seiner Straße, seinem Viertel, seiner Stadt. Er betreibt im Internet einen eigenen Blog und fordert mit Nachdruck, dass die Erinnerung wachgehalten wird.
Diejenigen, die ihn als Betriebsratsvorsitzenden erlebt haben, wird es kaum überraschen, dass Artus das, was er will, auch durchsetzt: Er ist beispielsweise dafür eingetreten, dass ein Schild mit den Namen der rund 1700 Menschen, die im Juli 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurden, an die Fassade der Schule Schanzenstraße geschraubt wird, wo ihre Reise in den Tod begann. Und er hat es geschafft: Demnächst wird es aufgehängt.
Artus’ größter Erfolg aber ist es, Kenneth Hale gefunden zu haben. „Diese Sache hat mich wirklich angefasst und gerührt“, sagt er.
Kenneth Hale wurde in Hamburger Schule ausgebildet
„Alles begann vor ein paar Wochen damit, dass ich in meinem Blog die Geschichte eines gewissen Jacob Blanari erzählte, der, bevor er mit seiner Frau vergast wurde, im Haus Weidenallee 10 b und c in einer sogenannten Werkschule der Jüdischen Gemeinde als Lehrer tätig gewesen war“, so Artus. In dieser Schule, deren Geschichte völlig in Vergessenheit geraten ist, wurden bis zur Schließung 1940 junge Hamburger Juden zu Handwerkern ausgebildet, sozusagen als Vorbereitung für die Emigration: Als Tischler oder Schlosser sollten sie sich später in Palästina eine eigene Existenz aufbauen.
Ein gewisser Kevin Hale, Rabbi aus Massachusetts, las diesen Blog und schrieb an Artus eine Mail: Sein Vater habe bei Jacob Blanari in der Werkschule das Tischlerhandwerk erlernt. Artus war begeistert. „Und als ich dann auch noch hörte, dass der Vater noch am Leben ist und sich mit mir unterhalten will, da war ich völlig von den Socken.“
Das Gespräch fand wenige Tage später statt. Der 98-jährige Kenneth Hale alias Klaus Heilbut machte beim Videochat mit, als wäre es für ihn das Selbstverständlichste. Während er von seiner Jugend in Hamburg erzählte, von den schweren Jahren im Exil in England und der Einwanderung nach Amerika, blätterte er in alten Fotos und hielt sie in die Kamera: Eins zeigt seinen Bruder vor dem Haus Poßmoorweg 43 in Winterhude, in dem seine Familie wohnte, auf einem anderen ist er in der Ausbildungswerkstatt in der Weidenallee zu sehen.
Klaus Heilbut kommt am 11. Mai 1922 in Altona als zweites Kind von Hella und Oscar Heilbut zur Welt. Nach der Scheidung der Eltern 1930 bleiben die Jungs bei der Mutter, die eine äußerst engagierte Frau ist. Gründerin eines eigenen Kinderheims und zudem politisch stark engagiert: Sie ist die erste sozialdemokratische Vorsitzende des Elternbeirats der Blankeneser Volksschulen und schreibt Aufsätze für die SPD-Zeitung „Hamburger Echo“.
1933, das Jahr der Machtübernahme. Alles ändert sich jetzt. Klaus Heilbut ist zehn Jahre alt, als die Mutter das Haus in Blankenese räumt und mit ihren Söhnen in eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Poßmoorweg in Winterhude zieht. Es ist die letzte frei gewählte Adresse der Familie Heilbut in Deutschland. 1938 wird die Familie gezwungen auszuziehen, weil es, wie die Gestapo schreibt, den Nachbarn nicht zuzumuten sei, mit Juden unter einem Dach zu leben.
Aus Angst vor Gestapo: 500 Bücher in der Alster entsorgt
Von ihrer Habe mitnehmen darf Hella Heilbut praktisch nichts, auch nicht ihre umfangreiche Bibliothek. Sie macht sich Sorgen deshalb: Wie wird die Gestapo reagieren, fragt sie sich, wenn sie auf Werke verfemter sozialistischer Autoren wie Karl Marx, Friedrich Engels und August Bebel stößt? „Werde ich dann wieder vernommen, diesmal vielleicht sogar eingesperrt?“
Um das zu verhindern, gehen Hella Heilbut und die Söhne nachts zur Alster und entsorgen die fraglichen Bände. 500 Bücher, Marx’ „Kapital“ inklusive.
Hella Heilbut muss machtlos mit ansehen, wie Fremde kommen und schamlos ihren Besitz rauben. „Am Tag unseres Fortgangs gingen im Haus Leute, die wir nicht kannten, ein und aus“, schreibt die Mutter später, „und trugen alles fort aus unserer Wohnung, was sich leicht mitnehmen ließ, darunter unseren Radioapparat.“
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Klaus Heilbut besucht zunächst die Talmud-Thora-Schule im Grindelviertel, bevor er an der jüdischen Werkschule eine Tischlerausbildung beginnt. In dem Haus Weidenallee 10 b sind heute eine PR-Agentur und Direktmarketing-Firmen ansässig. Damals fand im dritten Stock die Tischler- und im vierten die Schlosserausbildung statt. Klaus Heilbut alias Kenneth Hale erinnert sich gut an Lehrer Blanari. „Der hat uns erzählt, dass er zwar die Möglichkeit habe, in die USA auszuwandern, aber nicht wisse, was er da soll. Er glaubte, die Nazis würden ihm schon nichts antun …“
Kenneth Hale schüttelt mit dem Kopf über diese Fehleinschätzung: „Ermordet haben sie ihn!“
Mai 1939: Hella Heilbut und ihr Sohn Klaus verlassen Hamburg
Hella Heilbut ist seit den Novemberpogromen 1938 wild entschlossen, das Land zu verlassen. Sie schreibt Briefe an Freunde und Verwandte im Ausland und bittet um Unterstützung für die Ausreise. Die letzten Monate wohnen Mutter und die beiden Söhne zur Untermiete bei einem befreundeten Ehepaar im Woldsenweg. „Ich war froh, mit meinen beiden Jungen eine Zuflucht in einem möblierten Zimmer gefunden zu haben“, schreibt Hella Heilbut später, „wo wir ohne akute Gefahr den Zeitpunkt unserer Auswanderung abwarten konnten.“
Im Mai 1939 ist es so weit: Hella Heilbut und ihr Sohn Klaus verlassen an Bord des US-Dampfers „Washington“ Hamburg. Im Juni folgt ihr älterer Sohn. Kurz darauf bricht der Zweite Weltkrieg aus. Wer als Jude das Land jetzt noch nicht verlassen hat, für den gibt es nur noch einen Weg raus aus Deutschland: im Viehwaggon Richtung Gaskammer.
Am 16. Mai 1952 wurde Klaus Heilbut US-Staatsbürger
Während der ältere Bruder schon 1940 in die USA emigriert und als Soldat gegen Hitler-Deutschland kämpft, bleiben Hella und Klaus Heilbut bis 1946 in England. Dann ziehen auch sie weiter in die USA, wo aus ihnen Hella und Kenneth Hale werden. Am 17. Mai 1952 erhalten sie die US-Staatsbürgerschaft.
Kenneth Hale fasst sehr gut Fuß in den USA. Er fängt bei einer US-Rüstungsfirma an und steigt bis ins Management auf. Im Mai ist er 98 Jahre alt geworden, aber er fühlt sich, wie er sagt, topfit. An Hamburg erinnert er sich gerne. Vor allem an die Zeit in der Tischlerwerkstatt. Was er dort gelernt habe, sagt er, sei sehr nützlich für ihn. Möbel müsse er nicht kaufen. Alle, die in seiner Wohnung stehen, hat er selbst gemacht.
Der Vater dreier Kinder und mehrfache Urgroßvater freut sich, dank Holger Artus wieder Kontakt nach Deutschland zu haben, und dass es dort Menschen gibt, die sich für seine Geschichte interessieren. Eine Geschichte von einem, der mit viel Glück und dank der Weitsicht seiner Mutter den Holocaust überlebt hat.
Und Holger Artus? Der Erfolg, Kenneth Hale entdeckt zu haben, ermuntert ihn, seine Nachforschungen zur NS-Geschichte fortzusetzen. Vergangenen Dienstag veranstaltete er eine Kundgebung vor der Zentrale des Heinrich-Bauer-Verlags und erinnerte an italienische Kriegsgefangene, die während des Krieges im Verlagsgebäude interniert waren.
Sein nächstes Projekt: Gemeinsam mit der Initiative Dessauer Ufer kämpft er darum, dass das Lagerhaus G auf der Veddel – von 1943 bis 1945 ein Außenlager des KZ Neuengamme – in eine würdige Gedenkstätte verwandelt wird.
Die Geschichte von Klaus Heilbut in unserem Podcast „Der Tag, an dem“
Den neuen historischen Podcast zu „Der Tag, an dem …“ finden Sie jeden Sonntag ab 10 Uhr hier:
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Hamburgs Geschichte zum Anhören.
Das Buch „Der Tag, an dem…“, das in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Junius-Verlag erschienen ist, bekommen Sie im Buchhandel oder ebenfalls in unserem Onlineshop.
Übrigens: Die neue Ausgabe von „Unser Hamburg“ ist am Kiosk und im MOPO-Shop erhältlich.