Kneipensterben durch Corona: Hamburgs Kulturszene kämpft für die „Mutter“
An Tag eins erinnert sich Betreiber Eike Wulf genau: Es war der 26. November 1998, als er in der „Mutter“ Eröffnung feierte. Seitdem ist die verrauchte Kneipe an der Stresemannstraße für viele zum Lieblingsort geworden. Für Musiker und Literaten, Alteingesessene, Szenegänger und Wunderlinge. Doch die Corona-Pandemie geht der „Mutter“ an die Substanz – so wie vielen Bars in Hamburg.
Umsätze brechen ein, die Sperrstunde verschärft die Not. „Ich bin mir sicher, dass es ein großes Kneipensterben geben wird“, sagt Wulf. Und hofft auf Unterstützung von Politik und Freunden (eine Spendenaktion läuft auf betterplace.me/rettet-die-mutter-20). In der MOPO berichten fünf Stammgäste aus der Kulturszene, warum sie die „Mutter“ lieben.
„Hamburg ohne ,Mutter‘ ist sinnlos“
Nora Gantenbrink (34), Romanautorin und Journalistin: „Ich kann nicht mehr zählen, wie oft irgendjemand am Ende eines langen Abends sehnsuchtsvoll sagte: ,Lass noch mal in die ,Mutter‘‘– was wir genau so dann auch taten. Hier fand jeder von uns noch ein bisschen Wärme.
Und immer, wenn man danach wirklich irgendwann nach Hause ging, war man glücklicher. Und um nichts anderes geht es doch. Hamburg ohne ,Mutter‘ ist sinnlos.“
„Ohne die ,Mutter‘ gäbe es dieses Kind nicht“
Judith Liere (41), Romanautorin und Journalistin: „Ich kann mich noch an meinen ersten ,Mutter‘-Besuch erinnern, es war 2001, ich war gerade nach Hamburg gezogen, eine Freundin nahm mich mit, mit der Ankündigung, dass da ,immer die von Tocotronic‘ rumhingen, weshalb ich sehr aufgeregt war und mir gleichzeitig total cool vorkam.
Die ,Mutter‘ war sofort mein Ding: viel Bier, nicht schick, aber auch nicht zu versifft. Die Gäste entspannt interessant und alle rauchten sich die Augen aus dem Kopf. Ich hatte mein Nachtleben-Zuhause gefunden, kein anderer Ort war mir in den letzten 20 Jahren so ein verlässlicher Hafen.
Zwischendurch habe ich in Florenz, in Wien, in München und Berlin gewohnt, aber wenn ich in Hamburg zu Besuch war, war ich immer in der ,Mutter‘. Ich weiß nicht, wie viele Liter Bier ich dort getrunken habe, wie viele Schachteln Kippen geraucht, wie viele lustige, traurige, tiefsinnige und pseudo-tiefsinnige (weil betrunkene) Gespräche ich dort geführt habe.
Aber ich weiß noch sehr genau, wie ich dort vor acht Jahren gegen drei Uhr morgens am Tisch hinten links in der Ecke mit dem Mann geknutscht habe, mit dem ich heute verheiratet bin. Bei unserer gemeinsamen Wohnungssuche war fußläufige Entfernung zur ,Mutter‘ eine wesentliche Bedingung. Im Januar wurde unser Sohn Tony geboren, als Willkommensgeschenk gab’s vom Tresenpersonal (danke, Fynn und Nagi!) einen roten ,Mutter‘-Body. Ohne diese Bar gäbe es dieses Kind nicht.
Und sie muss bitte mindestens noch so lange weiter bestehen, bis Tony alt genug ist, um dort selbst am Tresen zu sitzen.“
„Alles und jeder sieht hier schön aus“
Rick McPhail, Gitarrist und Keyboarder der Indie-Band Tocotronic: „Im Titelsong der Fernsehserie ,Cheers‘ gibt es diese Textzeile: ,Sometimes you wanna go where everybody knows your name‘. Die Serie habe ich oft geschaut, lange bevor ich in Bars ging. Als ich in meiner Heimat USA mit 21 endlich in die Kneipe durfte, war mir genau das bei der Wahl einer guten Bar wichtig.
Es gibt wenige, die es in meine Topliste geschafft haben. ,The Chameleon (RIP)‘ in San Francisco, ,Metronom‘ in Köln und die ,Mutter‘. Rot getöntes Licht (genug, um alles zu sehen, aber so wenig, dass alles und jeder schön aussieht). Ein Holztresen mit Barhockern (ohne Rückenlehne) – eines Tages kaufe ich meinen eigenen und stelle ihn da rein.
Die Musik ist laut genug. Wenn man etwas Schönes hört, hört man es, aber man muss sich nicht heiser schreien. Und allein ist man in der ,Mutter‘ auch nie: Da ist immer jemand hinterm Tresen, der wie in ,Cheers‘ sagt: ,Hallo Rick!‘“
„Gedankenverloren am Tresen versinken“
Frank Spilker (54), Frontmann der Indierock-Band Die Sterne: „Die Stufen heruntergehen und sich über die Luft beschweren. Gleichzeitig die Umgebung scannen. Gescannt werden. Direkt zum Zigarettenautomaten, anschließend ein Getränk. Erst mal aufatmen, wenn man nicht vorher schon etliche Floskeln ausgetauscht und Flossen geschüttelt hat.
Manchmal muss man sich direkt durchkämpfen zum Tresen. Hockerschlacht. Wer einmal sitzt … Gedankenverloren am Tresen in einem alkoholischem Getränk versinken. Den Hereinkommenden hinterherschauen. Die nächsten Projekte planen. Der leidige Diskurs. Noch einen Drink.
Aber was davon ist überhaupt zielführend? Die Musik aus den Lautsprechern? Soziale Kontakte? Ergibt sich heute der nächste Auftrag? Eine fruchtbare Zusammenarbeit? Der vorbildliche Umgang mit gesellschaftlich akzeptierten Uppern (Kippen) und Downern (Alk) vielleicht? (Ich kenn einen, der kann nach sieben Gin Tonics immer noch ,systemrelevant’ sagen.)
Hat das alles etwas damit zu tun, wie das menschliche Gehirn funktioniert? Der Mensch selbst? Soziale Dynamiken? Oder ist das alles einfach noch nicht ausreichend erforscht? Lassen Sie uns den Laden einfach offen, wir arbeiten weiter daran, das herauszubekommen.
„Wichtiges Biotop für seltene Lebensformen“
Tino Hanekamp (41), Bestseller-Autor und ehemaliger Clubbetreiber: „Die ,Mutter‘ ist ein wichtiges Biotop für sehr seltene Lebensformen, die sich da zusammenfinden und überleben können und zuweilen sogar neue Lebensformen bilden und gebildet haben. Deswegen ist sie unbedingt erhaltenswert.
Und wenn jeder, der in der ,Mutter‘ mal einen guten Abend verbracht hat, einen Euro spendet, müssen die, glaube ich, für zwei Jahre nicht mehr aufmachen. Ich komm nicht mehr nach Hamburg zurück, wenn’s die ,Mutter‘ nicht mehr gibt!“