Kolumne „Geschichten vom Meer“: Warum die halbe Welt Seemanns-Lieder singt
Dieses moderne Märchen, das von der positiven Energie sozialer Medien befeuert wird, beginnt irgendwann im letzten Lockdown-Sommer. Nathan Evans, ein Postbote, 26, kam von seiner Morgenrunde in der schottischen Kleinstadt Airdrie nach Hause. Er lud einen Shanty auf seiner TikTok-Seite hoch. TikTok, diese Gute-Laune-App, bei Jugendlichen beliebt. Evans folgten etwa ein Dutzend Leute.
Das ist sechs Monate her. Heute singt Evans für vier Millionen Follower, sein Lied steht aktuell auf Platz 3 der britischen Charts. Ständig rufen Journalisten an und auch der R&B-Star John Legend lobte ihn. Der Hashtag „seashanty“ verzeichnet 82 Millionen Treffer.
Schottischer Postbote Nathan Evans wird mit Shantys zum Star
Der Chart-Hit des Postboten heißt „The Wellerman“. Ursprünglich stammt das Lied aus dem Jahre 1860. Inhaltlich geht es um das Fangen und Zerlegen von Walen.
Wie bitte konnte es dazu kommen?
Shantys waren mal wirklich wichtig, also nicht auf TikTok, sondern im echten Leben, wo man sich die Hände schmutzig macht. In einer Zeit ohne Maschinen und Hydraulik bedeutete Arbeit an Deck der großen Segelschiffe Maloche. Besonders dann, wenn Anker gehoben oder Segel gesetzt wurden. Wenn es darum ging, dass die Crew an einem Strang ziehen musste. Mit Gesang ging dies harmonischer – und es war auch gut für die Moral an Bord.
Shantys machten die Maloche an Bord erträglicher
Also stimmte der „Shantyman“ ein Lied an, sang laut durch den Wind und das Rauschen der Wellen, und die Crew antwortete ihm im Takt. Schottische Walfänger sangen, Hafenarbeiter in der Karibik, Matrosen auf den großen Teeklippern.
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Als die Kraft der Dampfmaschinen die Kraft des Windes ersetzte, verstummte der Gesang an Bord. Auch in den Hafenkneipen ist es lange still: Heute sind Seeleute in Mannschaftsrängen mies bezahlte Industriearbeiter, die nicht schnellen Schnaps und schnelle Liebe suchen, sondern kostenloses Wi-Fi.
Dass Millionen Menschen überall auf der Welt in der Corona-Zeit Seemannslieder anstimmen, das liegt am Element des Archaischen. Weit draußen auf See zu sein, im Angesicht eines aufziehenden Sturms – so fühlt sich das doch gerade für viele im Dauer-Lockdown an.
Darum passen die Shantys von Nathan Evans so gut in die Corona-Krise
Schiefe Töne? Gerne! Dies alles ist so bodenständig, so authentisch und ehrlich und passt in Wochen, in denen sich viele einsam fühlen. Alle sitzen in einem Boot, alle ziehen an einem Tau – zumindest für die Länge eines „Wellerman“.
Zur Ironie dieses Erfolgs gehört, dass sich die Lage der Seeleute noch immer wenig verbessert hat. Während die Welt Seemannslieder trällert, sind mehr als 400.000 Crewmitglieder in Häfen oder an Bord von Schiffen gestrandet. Ob zum Beispiel die Kiribatis, die in einer Hamburger Jugendherberge ausharren, mit Begeisterung einen „Wellerman“ singen? Nein, eher nicht.
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Der schottische Postbote, mit dem alles begann, ist übrigens kein Postbote mehr. Er hat seinen Job gekündigt – und macht nun professionell Musik.