• Die Situation in vielen Alten- und Pflegeheimen ist prekär – nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie.
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„Ein Friedhof für Lebende“: Altenheime: Corona macht katastrophale Zustände sichtbar

Seit April befindet sich die Pflege im Ausnahmezustand: Bund und Länder haben ein komplettes Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen verhängt. Ohnmächtig und fassungslos müssen sorgende Angehörige ihre Nächsten dem überforderten Personal überlassen. Laut Robert-Koch-Institut sind 86 Prozent der Corona-Toten in Deutschland 70 Jahre oder älter.

Immer lauter werden jetzt Forderungen und „Ratschläge“, „alle über 70 sollten freiwillig zu Hause bleiben“. Politiker, die gerne mal wieder in eine Talkshow eingeladen werden wollen, provozieren mit populistischen Forderungen nach pauschaler dreimonatiger Quarantäne für alle Älteren. So wie zuletzt der Tübinger Grünen-Politiker Boris Palmer, der so weit ging zu sagen, dass durch das Kontaktverbot Menschen gerettet würden, „die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“. Darüber regen sich nun wieder andere auf, sind empört, warnen vor Altersdiskriminierung.

Ich sage: Das ist eine scheinheilige, bizarre und teilweise verlogene, absurde öffentliche Debatte. Die meisten dieser Akteure haben noch nie ein Pflegeheim (unangemeldet) von innen gesehen und haben bisher zu den alltäglichen Formen der Altersdiskriminierungen, Verletzungen der Grund- und Menschenrechte, Missachtung und Beschneidung der Selbstbestimmung alter, besonders schutzbedürftiger, ausgelieferter und sterbender Menschen in Pflegeheimen geschwiegen, haben sich dafür nicht interessiert. Ich bin ganz überrascht, dass sich aktuell ganz plötzlich so viele Menschen um die „besonders schutzbedürftigen alten, kranken, pflegebedürftigen Risikopatienten“ sorgen und sich Gedanken machen, wie wir diese noch mehr beschützen (isolieren?) müssen.

Berichte über menschenunwürdige Zustände in Pflegeheimen

Von Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Politikern, die jetzt ständig das Grundgesetz zitieren, habe ich in den vergangenen Jahren in der Pflegediskussion keine Empörung, keinen Aufschrei gehört. Und auch das öffentliche gesellschaftliche Interesse für Berichte in den Medien war vor Corona noch minimal, obwohl doch eigentlich alle Bescheid wissen!

Seit über 30 Jahren erhalte ich beinahe täglich Hilferufe (Mails, Briefe, Anrufe) von verzweifelten Pflegekräften und ohnmächtigen, resignierten und zum Teil schon traumatisierten Angehörigen aus der bundesdeutschen Pflegeszene. Die Erfahrungsberichte über menschenunwürdige Zustände in zahlreichen Pflegeheimen sind kaum auszuhalten.

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Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen Bescheid wissen, wegschauen, mitmachen und schweigen. Die meisten InformantenInnen, darunter auch Notärzte, Rettungssanitäter und Bestatter (!), bitten mich um absolute Anonymität – aus Angst, als Nestbeschmutzer von den eigenen Kollegen denunziert zu werden.

Allianz der Angst und des Schweigens in Einrichtungen und in der Gesellschaft

Eine gespenstische, unerträgliche, beschämende Allianz der Angst und des Schweigens in vielen Einrichtungen und in der Gesellschaft. In den vergangenen Tagen und Wochen werden wir nun täglich (!) mit Zahlen, Sterbestatistiken und Bildern u. a. aus Pflegeheimen und Kliniken in den Medien konfrontiert.

Aber auch vor Corona gab es schon Berichte über unerträgliche Zustände in Pflegeheimen – nur dass diese Berichte wenige interessiert haben. In der Pflegeszene empörte man sich regelmäßig über die „skandalisierende Berichterstattung in den Medien“. Es waren nur „bedauerliche Einzelfälle“, selten hat sich ein Staatsanwalt für diese Menschenrechtsverletzungen und zahlreichen Todesfälle interessiert. Die bekannten Kommentare waren: „Er war doch schon alt“, „Herzversagen“, „schicksalhafter Verlauf“ und „jetzt ist er/sie endlich erlöst“, „das war doch kein Leben mehr“.

Bereits im Jahre 2002 (!) habe ich eine Liste mit Mindestanforderungen für eine menschenwürdige Grundversorgung, die jedes Pflegeheim in Deutschland garantieren muss, veröffentlicht. Eine meiner Forderungen: „Jeder pflegebedürftige Mensch muss TÄGLICH (wenn gewünscht) die Möglichkeit bekommen, sein Bett zu verlassen und an die frische Luft zu kommen.“ Eigentlich ein Grundrecht, eine Selbstverständlichkeit – in jedem Gefängnis ist täglich eine Stunde Hofgang garantiert. Und die artgerechte Haltung von Hunden verlangt dreimal täglich Gassi gehen!

Viele alte Menschen sind vergessen, bekommen nie Besuch

Die traurige, unbequeme, unangenehme Wahrheit: Vor Corona wurden in deutschen Pflegeheimen nicht einmal zehn Prozent der Heimbewohner öfter als einmal pro Woche besucht. Die meisten erhalten höchstens ein-, zweimal im Monat Besuch. Viele alte Menschen sind vergessen, bekommen nicht einmal zum Geburtstag oder Weihnachten Besuch.

Bedrückende Vereinsamung, Trostlosigkeit, Langeweile, Erniedrigung und Isolation sind die bittere Realität. Pflegekräfte und Angehörige berichten, dass viele Menschen systematisch „in die Betten gepflegt werden“ und oft Tage und Wochen nicht mehr an der Sonne waren! Bewegung, frische Luft, Spazierengehen sind Luxus!

„Das hier ist ein Friedhof für Lebende. Ich möchte nur noch sterben“

Ich habe persönlich erlebt, dass selbst bei schönem Wetter im Sommer alle Bewohner bereits um 18 Uhr im Bett waren. Ich hatte das Gefühl, ich betrete eine Aussegnungshalle. Frau B. (98), die ich öfters im Pflegeheim besucht habe, sagte zu mir: „Das hier ist ein Friedhof für Lebende. Das ist doch kein Leben – ich möchte nur noch sterben und niemandem mehr zur Last fallen!“

Dieser Hilferuf dürfte vielen Menschen nicht unbekannt sein …! Vielen Menschen steht in den Heimen ein langer würdeloser Weg bis zum einsamen Sterben bevor.

Durch die Besuchsverbote in den Heimen fehlt jetzt allerdings auch noch das Frühwarnsystem durch die wenigen kritischen, sorgenden Angehörigen. Pflegeheime sind jetzt zu weitgehend rechtsfreien Räumen geworden.

Offensichtlich haben wir uns alle an die Meldungen über Pflegenotstand, Hygienemängel, Zeitdruck, Minutenpflege, „es ist 5 vor 12“, „es wird immer schlimmer!“, an die viele Tausend vermeidbaren Toten durch Klinikkeime, Mangelernährung, Austrocknung, Ruhigstellung, Fixierung wegen Personalmangel usw. längst gewöhnt. Die Schicksale alter pflegebedürftiger Menschen haben nur wenige interessiert und beunruhigt.

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Zur Erinnerung ein paar Meldungen/Schlagzeilen aus der Zeit vor Corona: „Es gibt Heime, die sind die Hölle“ (MOPO, 3. August 2017), „Pflege im Akkord ist Mord“ – Auszubildende demonstrieren gegen Zustände in Heimen und Krankenhäusern“ („tz“, 8. November 2007), „Unterbesetzung erhöht das Mortalitätsrisiko“ („Die Schwester“, Mai 2011), „Magensonde statt liebevolle Fürsorge“ („Münchner Merkur“, 9. Dezember 1995), „Das Altenheim wird zum Sterbehaus!“ („Frankfurter Rundschau“, 9. Oktober 1991), „Im Krankenhaus droht Lebensgefahr“ – Mangel an Pflegekräften gefährdet westdeutsche Klinik-Patienten“ („Spiegel“, 21. November 1988), „Allein in der Todesstunde“ („Erlanger Nachrichten“, 10. April 1989).

Nun sind wir endlich gefordert offen zuzugeben, dass nicht alleine Corona die Pflegeheime und Kliniken in diese prekäre Situation gebracht hat – durch Corona wurden die (eigentlich längst bekannten) strukturell würdelosen, katastrophalen Zustände in den Pflegeeinrichtungen erst überall sichtbar. Nach Corona muss das gesamte Pflege- und Gesundheitssystem auf den Prüfstand. Wir brauchen endlich einen Perspektivenwechsel, eine ehrliche, selbstkritische, transparente, solidarische und ethische Diskussion.

Pflege, Gesundheit und Krankheit müssen endlich zur Schicksalsfrage der Gesellschaft werden. Das kollektive gleichgültige Wegschauen, Schweigen, Ignorieren, Verharmlosen, Verdrängen muss endgültig vorbei sein!

Wir müssen alle sofort gemeinsam, solidarisch, konsequent umdenken und handeln! Wenn wir es nicht schaffen, dann dürfen wir die verzweifelten pflegebedürftigen Menschen nicht am Sterben hindern! Wir werden uns dann offen und ehrlich mit den Möglichkeiten der aktiven Sterbehilfe beschäftigen müssen – weil niemand mehr da ist, der uns pflegt!

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