Der Fall Assange: Wo bleibt unsere Empörung?
Die Pressefreiheit ist ein Garant für unsere persönliche Freiheit. Sie zu beschneiden, bedeutet die Auflösung der Gewaltenteilung und ist der erste Schritt in Richtung Diktatur. Das sagt Buchautor und Publizist Michel Ruge im aktuellen „Standpunkt“ in der MOPO.
Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter für Folter, befasst sich gegenwärtig mit dem Fall Assange. Ein mutiger Mann, der sich dieser Entwicklung gerade entschlossen entgegenstellt. Wenn wir als Einzelpersonen Assange im Moment vielleicht nicht helfen können, so können wir allerdings diesen Mann schützen, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten. Denn sicher ist, dass wir nicht wissen, wie sicher das Leben solch mutiger Menschen wirklich ist. Das gilt für Melzer, für Julian Assange, Chelsea Manning und alle sogenannten Whistleblower.
Mittlerweile ist aktenkundig, dass Assange die beiden Frauen, deren Gang zu einer schwedischen Polizeiwache das Ganze ins Rollen gebracht hat, nicht nur nicht vergewaltigt hat, sondern dass die Frauen das auch nie behauptet haben. Es steht damit fest, dass die Aussagen der Zeuginnen von Behördenseite fingiert wurden. Allein das ist ein veritabler Skandal. Aber es ist nur der Beginn einer Kette von Ereignissen, die, von Geheimdiensten gesteuert, jeden Polit-Thriller blass aussehen lassen.
Fall Julian Assange: Es wurden Intrigen gesponnen
Der Fall Assange ist nicht nur für den Wikileaks-Gründer bitter, sondern auch eine bittere Pille für uns als Medienkonsumenten, die wir jetzt wohl oder übel herunterwürgen müssen: Klar ist, dass die Medien in den vergangenen Jahren erfolgreich manipuliert wurden. Auch ich geriet ins Wanken, als ich die Dokumentation sah, in der ehemalige Weggefährten Assange als gestörten Narzissten darstellten, der seine Umwelt missbraucht hat, und in der die schwedische Staatsanwaltschaft felsenfest an den fingierten Vergewaltigungsvorwürfen festhielt.
Die Reihe an spannenden und skandalträchtigen Ereignissen im Fall Assange würde ein dickes Buch füllen, aber am Ende steht fest: Es wurden Intrigen gesponnen, und Assange wurde öffentlich vorverurteilt und gekreuzigt. Jetzt, nachdem ihm der Schutz vor diesem perfiden und verbrecherischem System aufgekündigt wurde, steht er vor einem nach meinem Rechtsempfinden ungerechten Schauprozess, in dem Schuld und Strafmaß längst besiegelt sind.
Viele bewundern Julian Asssange
Viele bewundern Assange für seinen Mut und seine Aktionen und dennoch: Wo sind die Empörten in den Talkshows? Wo sind die Aufschreie und wo sind unsere Politiker, die sich jetzt für ihn einsetzen könnten? Müssen?
In dem Maße, in dem die Sicherheit von Assange wackelt, wackelt unsere Demokratie, unser gesellschaftliches Miteinander und die Freiheit der Presse, als vielleicht wichtigster Schutzschild gegen die Etablierung eines Unrechtsstaates. Sie zwingt die Regierung zur Transparenz. Das ist umso wichtiger, weil wir, die Bürger, immer transparenter werden. Hier darf es kein Ungleichgewicht geben. Daher ist es einfach Blödsinn, wenn Menschen auf diese zunehmende Transparenz mit dem Hinweis reagieren, dass sie nichts zu verbergen hätten. Es geht dabei nicht um das Ich, sondern um das Wir – Allen muss die Tragweite bewusst sein und dass eine gläserne Gesellschaft ideale Voraussetzungen für Unterdrückung schafft und dem Unrechtsstaat damit Tür und Tor öffnet.
Wir müssen den Mund aufmachen
Es muss nicht der Seele der Bürger auf den Grund geschaut werden, sondern der der Regierung! Im Falle unserer Regierung wirft das die unbequeme Frage nach dem tatsächlichen Wert der sogenannten Europäischen Werteunion auf: Sind die Briten mit dem Brexit jetzt auch aus dem moralischen Zusammenhalt ausgetreten? Gelten diese Werte für sie nicht mehr? Und wenn dem so ist, dann müssen wir trotzdem den Mund aufmachen und die Demokratie eben auch gegen die Briten verteidigen.
Der Fall Julian Assange ist auch unser Fall
Tatsächlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich diesen Artikel schreiben soll, weil ich vielleicht auf irgendeinem Radar auftauche? Ich habe entschieden, dass mir das egal ist. Nils Melzer ist es auch egal. Und hoffentlich ist es ganz schnell ganz vielen Menschen egal, denn der Fall Assange ist nicht die Angelegenheit irgendeines weit entfernten Staates und seiner Regierung. Es ist auch unser Fall und damit Sache unserer Regierung, der wir jetzt Feuer unter dem Arsch machen müssen. Für Assange und um zu verhindern, dass der Samen der Angst in unserer Gesellschaft aufgeht, den die Verantwortlichen im Fall Assange säen.
Denn wenn ein Mensch fürchten muss, dass er für das Aufdecken von staatlich ausgeübtem Unrecht oder Kriegsverbrechen selbst in einen Krieg gerät, den er als Einzelner niemals gewinnen kann, wird er es schwer haben. Also solidarisieren wir uns mit ihnen, den Whistleblowern, mutigen Journalisten und allen Menschen, die uns mit ihrem Einsatz vor einem Unrechtsstaat schützen.