Kommentar: Warum der GDL-Streik unsolidarisch ist
Kein Lokführer kann seine Arbeit ohne die anderen Kolleginnen und Kollegen, die Stellwerker, Techniker, Ingenieure, IT-Experten, Schaffner, Servicepersonal und viele weitere Berufe machen. Das ist nicht anders als bei den Piloten von Cockpit und den Krankenhausärzten vom Marburger Bund. Das Elitebewusstsein einzelner Berufsstände ist das Gegenteil von Solidarität. Alle brauchen alle bei der Arbeit – und auch bei den Tarifen.
Der Grundwert von Gewerkschaften ist Solidarität. Während der Novemberrevolution haben Hugo Stinnes, Ruhrindustrieller und Vertreter der Arbeitgeberverbände, und Carl Legien, Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften, mit dem „Stinnes-Legien-Abkommen“ den ersten Kollektivvertrag (Tarifvertrag) geschlossen. „Kollektiv“, das hieß (und heißt auch heute noch): Alle organisierten Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, im Unternehmen oder in der Branche sind Betroffene und Beteiligte des Tarifvertrags. Nicht jede Berufsgruppe gründet für sich ihre eigene kleine Gewerkschaft und nur für sich selbst, sondern alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines Betriebes schließen sich in einer Gewerkschaft zusammen, um gemeinsam ihre Interessen durchzusetzen. Das ist gewerkschaftliche Solidarität nach innen.
Der GDL-Streik spaltet die Belegschaft der Bahn
Solidarität nach außen heißt: Die Stärkeren kämpfen für die Schwächeren mit und keiner bleibt allein. In jedem Betrieb oder Unternehmen gibt es Berufsgruppen, deren Bereich das Herz der Durchsetzungskraft ist. Die Lokführer sind so eine Gruppe. Tarifeinheit bedeutet: Die Beschäftigten mit der größten Durchsetzungskraft kämpfen für alle und nicht für eine privilegierte Abspaltung ihrer Berufsgruppe. Das Prinzip heißt: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft – gemeinsam sind wir stark. Das ist Gewerkschaft.
Der GdL-Streik spaltet die Belegschaft. Durch das Schüren von Konkurrenz zwischen den Kolleginnen und Kollegen wird deren Position insgesamt geschwächt. Der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GdL) scheint dies aktuell durchaus bewusst zu sein. Deshalb legt sie so viel Wert darauf, auch für die anderen Berufsgruppen innerhalb der Deutschen Bahn verhandeln zu dürfen, um das Image der egoistischen Einzelinteressenvertreter loszuwerden und den Anschein von Solidarität zu erwecken. Doch indem die Lokführer dies gegen die bestehende, weitaus größere DGB-Gewerkschaft, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), in einem brachialen Verdrängungswettkampf durchsetzen wollen, ist ihr Streik in Wahrheit ein Akt der Entsolidarisierung. Denn auch wenn Angehörige anderer Berufsgruppen nun in die GdL eintreten sollten, so wären sie dort noch lange nicht gleichberechtigt mit den tonangebenden Lokführern.
Beendet den Machtkampf gegen die EVG!
Ein Streik ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument im Arbeitskampf. Das Recht zum organisierten Zusammenschluss, zur autonomen Aushandlung von Tarifverträgen bis hin zum Streik ist uns seit 1949 im Grundgesetz garantiert – ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt. Der Geist der Grundrechte ist der Geist der Tarifeinheit. Es gibt genügend Beispiele in der deutschen Arbeitswelt, wo es in Betrieben mit mehreren autonomen Gewerkschaften gelungen ist, Tarifkämpfe gemeinsam zu organisieren und so die Tarifeinheit durch eigenes Handeln zu sichern.
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Mein Appell an die Mitglieder der GdL (der Vorsitzende Claus Weselsky scheint immun für solche Forderungen zu sein) lautet: Beendet den Machtkampf gegen die EVG, kommt zurück in das Boot der gemeinsamen Gewerkschaft oder verständigt euch zumindest über gemeinsame Tarifkämpfe. Nicht Zersplitterung und berufsständige Sonderrechte, sondern Solidarität und Respekt für alle, das ist Gewerkschaft.