Soziale Ungleichheit: Hilfe, die Mittelschicht schrumpft!
Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung ist die Mittelschicht zwischen 1995 und 2018 um sechs Prozentpunkte geschrumpft, soviel wie in keiner vergleichbaren Industrienation. Doch die Ampelkoalition wird daran kaum etwas ändern.
Allein von 2014 bis 2017 sind 22 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter in die unteren Einkommensschichten gerutscht und faktisch arm oder von Armut bedroht. Besonders von Armut betroffen sind Frauen, Migrant:innen, Ostdeutsche und junge Menschen.
Der Bericht, den die Bertelsmann Stiftung mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgegeben hat, zeigt, dass es mit ein paar Lippenbekenntnissen zur Bekämpfung von sozialer Ungleichheit, wie sie lose formuliert im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien zu finden sind, nicht getan ist.
Bertelsmann Stiftung: Mittelschicht in Gefahr
So heißt es in der Studie: „Die Chancen, in die mittlere Einkommensgruppe aufzusteigen, sind seit Ende der 1990er Jahre um mehr als zehn Prozentpunkte gesunken.“ Und: Jeder siebte Mensch aus der Mittelschicht arbeitet in einem Beruf, der von Automatisierung betroffen ist. Das alles ist schon mehr oder weniger schwer verdaulich, doch es geht noch weiter, denn der Bericht stellt fest, dass „die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft immer weniger in der Lage sind, das Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen“.
Halten wir fest: Immer mehr Leute verarmen, immer weniger können sich selbstständig aus der Armut befreien – und immer mehr Menschen, die sich der Mittelschicht zugehörig fühlen, sind entweder schon längst kein Teil mehr der Mitte, oder sind akut vom Abstieg bedroht.
Bei denjenigen, die im Fahrstuhl nach oben stecken geblieben sind, oder denjenigen, die sogar die Rolltreppe nach unten nehmen, wächst der Frust.
Armut in Deutschland: Ampelkoalition wird nicht viel ändern
Zuerst einmal: Vieles, was im Koalitionsvertrag steht, ist wichtig und gut. So werden die Rechte von Frauen weiter gestärkt (unter anderem ist die Werbung für Abtreibung nicht mehr strafbar), die Rechte von Queers sollen verbessert werden und auch Geflüchtete profitieren – wenn sie es erst einmal über die Grenze geschafft haben und einen positiven Asylbescheid vorweisen können – von dem Dreier-Bündnis. Das ist alles längst überfällig, dennoch gut, dass es in Sachen Gleichberechtigung und Co. nun voran geht.
Was dagegen nicht voran geht, sind vertikale Ungleichheiten zwischen Unten und Oben, also den armen Menschen, der schrumpfenden Mittelschicht und den Reichen. Klar, zwölf Euro Mindestlohn klingt erstmal gut. In der Realität verpufft aber durch die Inflation von aktuell mehr als vier Prozent und durch die Teuerung, die mit einem solchen Anstieg des Mindestlohns einhergeht, ein beachtlicher Teil des hinzugewonnenen Geldes.
Hartz IV heißt nun Bürgergeld – doch es hat ein bisschen was von dem Spruch „Aus Raider wird jetzt Twix, sonst ändert sich nix“: Die Sanktionen bleiben, der Regelsatz steigt vermutlich ein bisschen, doch wenn eines sicher ist, dann das: Unter einem Finanzminister Lindner wird für arme Leute schon nicht all zu viel Gutes herumkommen. Zur Erinnerung: 2011 forderte Lindner, dass ältere Menschen einen niedrigeren Hartz-IV-Regelsatz bekommen sollten.
Soziale Ungleichheit: Mut zu ernsthafter Umverteilung fehlt
SPD und Grüne lassen sich ausgerechnet vom Lobby-Politiker Lindner das Finanzministerium wegschnappen – und das sagt viel darüber aus, wie die Politik der kommenden vier Jahre werden wird: SPD und Grüne betteln um Gelder für Sozialpolitik und Umweltschutz – und Lindner sitzt wie Dagobert Duck auf der Knete und rückt sie nicht raus.
Dabei brauchte es angesichts der weiter voranschreitenden Spaltung der Gesellschaft endlich eine couragiert geführte Umverteilungsdebatte! Wie kann es sein, dass die arme Hälfte der Bevölkerung in Deutschland über 1,3 Prozent (2017) des Gesamtvermögens verfügt, die reichsten zehn Prozent über 56 Prozent und es keine Vermögenssteuer gibt? Warum gibt es keinen vernünftigen Erbschaftssteuersatz für Hyperreiche? Der Koalitionsvertrag liefert keine Antworten auf solche Fragen.
Armut in Deutschland: Bildung allein ist nicht die Lösung
Mit dem Mantra von Bildung, Bildung, Bildung ist es nicht getan, was die soziale Ungleichheit angeht. Zwar gibt es in Deutschland immer noch einen großen Fachkräftemangel – darum ist der Kommentar hier kein Plädoyer für weniger Bildung –, aber durch die steigende Zahl der Studierenden werden die Abschlüsse gleichzeitig immer weiter entwertet.
Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, dass nicht endlich Vermögen nach unten umverteilt wird, denn andersrum geschieht es ja bereits. Heutzutage wird kaum einer durch Arbeit reich, es sind die Erbschaften von Firmen, die Menschen in aller Regel reich machen – während ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft, beschleunigt durch die Auswirkungen des Coronavirus, verarmt.
Zum Autor: Olivier David (33) ist in Armut aufgewachsen. Anfang Februar erscheint sein Buch „Keine Aufstiegsgeschichte“ bei Eden Books.