Fahrradboom in der Pandemie: Radeln wird immer beliebter – schon gibt es Lieferengpässe
„Fahrrad ist das neue Klopapier“ hörte oder las man im Frühjahr 2020 häufig – und tatsächlich gewann das Fahrrad im Corona-Jahr enorm an Bedeutung. Im April und Mai wurden die Radläden in Deutschland überrannt. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) meldete für das erste Halbjahr einen Verkauf von 3,2 Millionen Fahrrädern – ein Plus von 9,2 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Und das, obwohl die meisten Radläden im März und April schließen mussten. Albert Herresthal vom Verbund Service und Fahrrad berichtet gar von einen Umsatzplus von etwa 50 Prozent für Fahrradfachhändler.
„Die Läden waren herausgefordert, neue Systeme zu entwickeln. Und wir wurden zur Digitalität gezwungen. Vieles davon können wir für die Zukunft übernehmen. Die Stimmung ist deshalb optimistisch, viele Händler sind aber auch erschöpft“, sagt er.
Die Hersteller können den Bedarf kaum decken
Sorgenvoll blicken viele auf die Liefersituation, was auch Stefan Reisinger, Bereichsleiter der Fachmesse Eurobike erkennt: „Verkaufen war in diesem Jahr einfach. Es gibt aber auch viele Sachen, die die Branche vor sich herschiebt, wie die Beschaffung.“
Da Fahrräder aus vielen Kleinteilen von unterschiedlichen Zulieferern bestehen, stehen Fahrradhersteller aktuell vor logistischen Baustellen. „Die Leute kaufen auf Teufel komm raus. Die Lieferketten sind darauf nicht ausgerichtet.“
Statt die Früchte zu ernten, stehen wir jetzt davor, alles ins Saatgut zu stecken. Das stellt gerade kleine Hersteller vor große Herausforderungen“, beschreibt Heiko Truppel die Situation beispielhaft für den Liegeradhersteller HP Velotechnik.
Fahrradkauf: Die Lager sind leer
Denn im ersten Halbjahr sanken die Produktion sowie die Importe von Zweirädern – während die Verkäufe anzogen. Die Folge: leere Lager bei der Industrie, leere Shops bei den Händlern. „Wir befürchten, dass wir die ganze nächste Saison von der Hand in den Mund leben“, sagt Jörg Müsse, Geschäftsführer beim Händlerverbund Bike & Co.
In Südostasien und China laufe die Produktion zwar wieder. Aber die Nachfrage weltweit ist deutlich gestiegen. Dadurch verschieben sich die Vorlaufzeiten extrem. Wartezeiten von der Bestellung bis zur Auslieferung von zwölf bis 14 Monaten sind mittlerweile gängig.
Das könnte Sie auch interessieren:Fahrradmangel in Hamburg
Auch deutsche Zubehörhersteller hätten mittlerweile Lieferzeiten von vier bis fünf Wochen. Obwohl man im Dreischichtbetrieb und am Wochenende arbeite, könne man aktuell kaum Lagervorräte für den eigentlichen Verkaufszeitraum im Frühjahr aufbauen, heißt es etwa vom Pumpenspezialisten SKS Germany oder vom Taschenhersteller Ortlieb. Wartezeiten bis Mai seien durchaus realistisch.
Fahrradboom: Der Trend geht zu Leih- und Diensträdern
Jörg Müsse ist sich deshalb sicher: „Es wird zu einer Knappheit kommen.“ Dennoch rechnen viele Fachhändler für dieses Jahr mit einem Umsatzwachstum von zehn bis 20 Prozent im Vergleich zu 2020. Woher der Optimismus? „Die Leute fahren einfach mehr Rad“, so Müsse.
Und der reine Blick auf die Verkaufszahlen blende einen großen Teil aus. „Immer mehr Umsätze werden über zusätzlichen Service gemacht. Leasing ist ein gutes Beispiel“, sagt Wasilis von Rauch vom Verband Zukunft Fahrrad. Er rechnet mit rund 350 000 Diensträdern in diesem Jahr – Tendenz weiter steigend. Auch Abo-Modelle erfahren in den Städten Zulauf. „Hier ist eine ganze Menge Dynamik“, so von Rauch.
Das könnte Sie auch interessieren: Hier radeln die Klimaaktivisten
Richtungsweisend für die Verkehrswende werde jedoch die Bundestagswahl. „Wenn wir die Sicherheit auf den Straßen nicht hinbekommen, werden die Leute nicht dauerhaft radfahren. Es braucht eine klare Vision der Verkehrspolitik, die Schluss macht mit dem Stückwerk der letzten Jahre,“ fordert Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities, und ergänzt: „Wir müssen die Verkehrswende flächendeckend einleiten, wenn wir die Radwelle in Deutschland reiten wollen.“