MOPO-Talk zum „Cannabis-Chaos“: Mediziner lobt Gesetz, Senatorin mit heftiger Kritik
Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne), ein Professor für Psychiatrie, ein Richter am Hamburger Landgericht und ein Cannabis-Aktivist: Es war eine hochkarätige Runde, die sich am Mittwochabend zum „MOPO Talk“ mit Marco Carini zusammengefunden hatte – mit zum Teil überraschenden Beiträgen. Es ging um das „Cannabis-Chaos“, um Pflanzen, die zu viel Ernte abwerfen, um den Gesetzgeber, der zu viel „durchgezogen hat“ und um magische Pilze, die man eigentlich auch legalisieren müsste.
„Nee, das ist es nicht“, das sei ihr erster Gedanke gewesen, als das Cannabisgesetz nach endlosen Abstimmungen und Änderungen endlich vorlag, erinnert sich Justizsenatorin Anna Gallina („So einen schweren politischen Prozess habe ich noch nie erlebt“). Seit dem 1. April 2024 dürfen Erwachsene 25 Gramm Marihuana bei sich tragen und zuhause drei Pflanzen plus 50 Gramm besitzen. Das Problem: Es gibt keine legalen Bezugsquellen. Man darf jetzt also kiffen, aber den Stoff muss man sich weiterhin auf dem Schwarzmarkt besorgen, denn die Anbauvereine dürfen sich erst im Juli gründen. „Falsche Reihenfolge“, stellt Gallina fest.
Gesetz ist „handwerklicher Murks“
Dass das Gesetz handwerklicher Murks ist und der Schwarzmarkt erstmal bleiben wird, da sind sich alle Diskussionsteilnehmer einig, und trotzdem: „Das Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Suchtmediziner Jens Reimer, Professor für Psychiatrie und Chefarzt am Klinikum Itzehoe: „Der Staat soll uns vor den schlimmsten Drogen schützen und das wären Alkohol und Heroin.“ Eigentlich müsste man Alkohol verbieten, und LSD und magische Pilze legalisieren. Unter Ärzten ist die Cannabis-Legalisierung durch ihren Kollegen, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), umstritten.
Reimer gehört zu jenen, die darauf verweisen, dass Alkohol die wahre Einstiegsdroge für Jugendliche ist und dass 90 Prozent der Cannabis-Konsumenten nicht in eine Sucht geraten: „Womit wir uns beschäftigen müssen, das sind psychisch belastete Jugendliche, die schon mit 14 anfangen zu kiffen.“ Was er in seinem klinischen Alltag erlebt: „Für Eltern junger Erwachsener ist es leichter geworden, über den Konsum ihrer Kinder zu sprechen und Fragen zu stellen, das ist für viele eine Erleichterung.“
Was das Gesetz mit seinen vielen offenen Fragen für die Justiz bedeutet, schildert Torsten Schwarz, Richter am Hamburger Landgericht. „Ich hätte mir gewünscht, der Gesetzgeber hätte mehr nachgedacht und weniger durchgezogen“, sagt er zur Erheiterung des Publikums: „Das ist, als würde man die Europameisterschaft feiern und sich dann überlegen, wie man die veranstalten könnte.“ So sei es etwa „frappierend“, dass der Besitz von drei Pflanzen erlaubt sei, man aber nur 50 Gramm Marihuana zuhause haben dürfte: „Wenn eine Pflanze aber schon 200 Gramm abwirft, was dann?“
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Es sei auch nicht zu verstehen, warum man im Partystadtteil Sternschanze zwar überall trinken, aber nahezu nirgends legal kiffen dürfe: „Da muss sich die Rechtssprechung erst entwickeln.“ Auch mit dem Wirkstoffgehalt oder Grenzwerten für Autofahrer hat das Gesetz sich nicht befasst. Die angekündigte Entlastung der Justiz durch wegfallende Bagatellfälle sieht er „mittelfristig nicht“: „Dazu kommt es vielleicht, wenn es einen geordneten Verkauf von legalem Stoff gibt.“
Cannabis-Aktivist lobt die Hamburger Polizei
Andreas Gerhold, langjähriger Aktivist für die Legalisierung, hat am Gesetz mitgearbeitet und lobt überraschenderweise die Hamburger Polizei: „Die verfolgen gerade einen pragmatischen Ansatz und gehen mit Augenmaß vor.“ Für den legalen Stoff sollen „Anbauvereinigungen“ sorgen, bei denen man Mitglied werden muss. Heißt: Wer nur hin und wieder einen Joint raucht, wird diese Hürde nicht nehmen: „Gelegenheitskonsumenten oder Touristen bleiben weiterhin auf den Schwarzmarkt angewiesen“, sagt Gerhold. Richter Schwarz stimmt zu: „Für viele Konsumenten machen die Anbauvereine keinen Sinn.“ Den Schwarzmarkt trocken legen, das könnten nur reguläre Verkaufsstellen schaffen, im Fachjargon „Die zweite Säule“ genannt. Bei der Abschlussfrage, wie die Lage mit dem Cannabis in zwei Jahren aussehen wird, zeigen alle Diskussionsteilnehmer sich pessimistisch: Eine „zweite Säule“ wird es bis dahin wohl nicht geben.