Mysteriöser Kriminalfall: Hamburgs „Trümmermörder“ verbreitet Angst und Schrecken
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Hamburg vor bald 75 Jahren: eine Stadt in Angst. Menschen bewegen sich nur noch in der Mitte der Straßen, weil sie fürchten, sie könnten aus Trümmern oder Kellerlöchern heraus angesprungen und ermordet werden. Vier Leichen gibt es schließlich schon. Nur eine Frage der Zeit scheint es, bis ein weiterer Mensch sterben muss. Eine „Bestie in Menschengestalt“ nennt die Kripo den Täter und fahndet mit Hochdruck nach ihm. Erfolglos. Der „Trümmermörder“ wird nie gefasst. Und was noch viel seltsamer ist: Niemand weiß, wer die vier Opfer sind. Bis heute ist ihre Identität ungeklärt.
Die Straße Kattunbleiche in Wandsbek: Sitz des Staatsarchivs. In dem futuristischen hellblauen Bau, eckig wie die Würfel beim Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel, werden die Hinterlassenschaften der Hamburger Geschichte aufbewahrt. Viele Kilometer Regale, gefüllt mit Zigtausenden Dokumenten, Verträgen, Akten, Büchern, Fotos. Ein Eldorado für Historiker. Auch die beiden randvoll gefüllten Leitz-Ordner, die von dem mit Abstand mysteriösesten Kriminalfall der Hamburger Geschichte erzählen, stehen hier. Aktenzeichen KK II A/1.
Zwei Aktenordner erzählen die Geschichte dieses Kriminalfalls
Vernehmungsprotokolle, Zeitungsausschnitte, Fahndungsplakate – alles ist in dieser „Mordhandakte“ sorgsam abgeheftet. Die Ermittlungen könnten sofort wieder aufgenommen werden. Wir lesen da, dass die Leichen – ein Mann, zwei Frauen, ein Kind – zwar an weit voneinander entfernten Stellen im Stadtgebiet gefunden wurden, aber – das ist das Gemeinsame – immer zwischen Bombentrümmern. Alle vier wurden erdrosselt. Allen hat der Täter die Kleidung ausgezogen. Auf den Tatortfotos sind nackte Körper zu sehen. Sie wirken unwirklich, unecht. Wie Wachsfiguren.
Wir schreiben das Jahr 1947. Es ist finsterste Nachkriegszeit, geprägt von Not und Elend. Mehr als die Hälfte des Wohnraums ist im Krieg zerstört worden, und weil immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten in die Stadt drängen, herrscht dramatische Wohnungsnot. Die Hamburger hausen in Kellern, Ruinen, Bunkern, Notunterkünften, Nissenhütten. Die Nahrung ist knapp. Wer nichts hat, um es auf dem Schwarzmarkt gegen etwas Essbares zu tauschen, muss Sorgen haben, zu verhungern.
1946/47: Der härteste Winter seit Menschengedenken
Und als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, geht der Winter 1946/47 dann auch noch als einer der kältesten seit Menschengedenken in die Geschichte ein. Von Ende Dezember bis tief in den März hinein herrschen Temperaturen von minus 20 Grad. Und diese furchtbare Kälte trifft auf Menschen, die oft nicht einmal intakte Glasscheiben in ihren Fenstern haben. Um an Brennmaterial zu kommen, legen sich Frauen und Männer nachts an Bahngleisen auf die Lauer und stehlen von den Zügen die Kohlen. Jeder ist damals ein Dieb – es sei denn, er will sterben. Und das Leben des anderen gilt manchmal weniger als ein paar Zigaretten.
Der kleine Kurt stolpert über eine Frauenleiche
Halb Hamburg besteht aus Trümmern – und die Ruinengrundstücke sind bei den Kindern als Spielplätze sehr beliebt. Am Nachmittag des 20. Januar 1947 treibt sich ein achtjähriger Junge namens Kurt in einer zerbombten Akkumulatorenfabrik in der Nähe des S-Bahnhofs Landwehr herum – bis ihm der Schreck seines Lebens in die Glieder fährt: Er stolpert über eine Leiche. Der kleine Kurt wird diesen bitterkalten Montagnachmittag sicher nie mehr in seinem Leben vergessen.
Bei der Leiche handelt sich um eine schlanke, mittelblonde Frau mit halblangem Haar und blauen Augen, etwa 18 bis 22 Jahre alt. Eine millimeterbreite Linie am Hals deutet darauf hin, dass der Täter sein Opfer mit einer Schur erdrosselt hat. Im Polizeibericht steht, dass es sich um eine auffallend gepflegte Frau handele. „Keine Arbeitshände.“ Darüber hinaus gibt es nur noch eine Besonderheit: eine gut verheilte Blinddarmnarbe. Sonst gibt es nichts, womit das Opfer identifiziert werden könnte.
Die Polizei ist ratlos. Hinweise aus der Bevölkerung gibt es keine. Niemand wird vermisst.
Das zweite Opfer ist ein 65- bis 70-jähriger Mann
Schon sechs Tage später, am 25. Januar 1947, taucht auf einem Ruinengrundstück an der Lappenbergsallee in Eimsbüttel eine weitere Leiche auf: Diesmal handelt es sich um einen etwa 65- bis 70jährigen Mann. Ebenfalls erdrosselt, ebenfalls nackt. Er ist schlank, 1,60 Meter groß, hat graues Haar, einen langen Schnurrbart, blaue Augen, eine leicht gebogene Nase, gepflegte Hände, gesunde Zähne. Ein in der Nähe gefundener schwarzbrauner Bambusstock mit gebogener Krücke ist vermutlich sein Eigentum.
John Thiele findet an der Billstraße ein totes Kind
Zunächst ist es nur eine Vermutung, dass beide Taten miteinander zu tun haben. Als aber am 2. Februar 1947 der Bootsverwahrer John Thiele im Fahrstuhlschacht einer zerstörten Matratzenfabrik an der Billstraße ein totes Kind findet – weiblich, vielleicht sechs, sieben Jahre alt, mittelblond, ein Meter groß, nackt, erdrosselt – wird aus dem Verdacht Gewissheit: ein Serienmörder geht um.
Jetzt sind die Zeitungen voll mit der Geschichte. Es gibt in Hamburg kein anderes Gesprächsthema mehr. Und die Angst schlägt in Panik um, als am 12. Februar auch noch eine vierte Leiche gefunden wird: In einer Ruine an der Anckelmannstraße unweit des Bahnhofs Berliner Tor sucht ein Schrottsammler nach Teilen für Öfen und stößt dabei auf eine tote, 35 bis 40 Jahre alte Frau. Sie ist 1,55 Meter groß, hat mittelblondes, halblanges Haar – nackt, ebenfalls erdrosselt.
In einer Ruine an der Anckelmannstraße liegt die vierte Leiche
Den Trümmermörder zu fassen und unschädlich zu machen, das ist die Aufgabe von Oberkommissar Ingwersen von der Hamburger Kriminalpolizei, dessen Dienststelle sich im damaligen Hamburger Polizeipräsidium am Karl-Muck-(heute Johannes-Brahms-)Platz befindet. Das Gebäude existiert noch, heißt heute Brahms-Kontor.
Identifiziert die Kripo die Opfer, dann hat sie auch den Täter
Ingwersens Mittel sind begrenzt. Weil die Besatzungsbehörde alle Nazis aus dem Polizeidienst entfernt hat, ist die Zahl der Ermittler gering. Nur vier Fahrzeuge stehen der Kripo zur Verfügung. Aber trotzdem setzt der Oberkommissar alle Hebel in Bewegung. Er tut, was in seiner Macht steht, um den Fall, der inzwischen die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt, aufzuklären. Er weiß: Er muss die Opfer identifizieren – dann wird er auch den Täter fassen.
Ingwersen lässt 60 000 Plakate drucken, die wenig später in allen vier Besatzungszonen, auch der sowjetischen, an Litfaßsäulen kleben.
Er sorgt dafür, dass die Staatsanwaltschaft eine Belohnung von 5000 Reichsmark und 1000 Zigaretten (!) aussetzt – die später sogar noch verdoppelt wird.
Ingwersen lässt in Ausgabestellen für Lebensmittelkarten nach Personen forschen, die ihre Karten nicht abgeholt haben – was darauf hindeutet, dass ihnen was zugestoßen sein muss, denn sonst würden sie ohne die Karten nicht auskommen.
Der Oberkommissar lässt Wartesäle von Bahnhöfen durchsuchen, weil die Vermutung besteht, dass es sich bei den Mordopfern um Durchreisende gehandelt haben könnte. Auch Bunker und verdächtige Gaststätten werden beschattet.
Alles erfolglos. Niemand kennt die vermissten Personen.
Auch die Hoffnung, über die Zahnprothese, die bei einem Opfer gefunden wurde, die Identität zu klären, erfüllt sich nicht. Fotos vom Zahnersatz werden an den Verband der Dentisten verschickt – aber niemand der Mitglieder kann sich erinnern, ihn angefertigt zu haben.
Ingwersen hat von Anfang an eine Hypothese: dass der ermordete ältere Mann der Vater bzw. Großvater der beiden toten Frauen ist und außerdem Urgroßvater des toten Mädchens. Er ist überzeugt: Der Mörder ist ein Verwandter, hat seine ganze Familie ausgelöscht – möglicherweise, um ein Erbe alleine antreten zu können. Das würde auch erklären, weshalb niemand die Toten als vermisst gemeldet hat.
Warum Ingwersen nicht einfach per DNA-Abgleich den Verwandtschaftsgrad der Leichen klären lässt? Das täte er gerne. Aber 1947 muss erst noch ein halbes Jahrhundert ins Land gehen, bis das forensisch möglich ist. Also bleibt es beim Verdacht.
Tage und Wochen vergehen, und alle rechnen damit, dass bald eine fünfte Leiche auftauchen wird. Aber diese Sorge bestätigt sich nicht. Kein weiterer Mord wird verübt. Es tut sich in der Sache auch sonst nicht viel. Die Polizei ist zwei Jahre nach den Taten – inzwischen sind 1000 Personen überprüft und sogar ein Hellseher eingeschaltet worden – keinen Schritt weiter.
Serienmörder Robert Pleil gesteht die Tat – und widerruft
1950 flammt noch einmal Hoffnung auf, den Fall aufklären zu können. Ein Informant macht die Kripo auf Rudolf Pleil aufmerksam. Der Mann sitzt in Braunschweig in Haft, hat im Harz mindestens zehn Frauen vergewaltigt und ermordet. Er nennt sich selbst „Totmacher“ und prahlt mit 15 weiteren Taten.
Könnte Pleil auch für die vier Hamburger Morde verantwortlich sein?
Pleil wird in die Hansestadt geholt und zu den Fundorten der Leichen gebracht. Er gesteht sofort – nimmt sein Geständnis aber schon bald wieder zurück: „Ich kann schließlich nicht alles gemacht haben“, sagt er. Außerdem sei Erdrosseln nicht so sein Ding … Tatsächlich verwendete Pleil bei seinen Taten meist Messer oder er erschlug seine Opfer – mal mit einem Stein, mal mit einem Hammer.
Die Hamburger Ermittler sind überzeugt: Der Mann ist ein Aufschneider. Ein Wichtigtuer in Sachen Mord.
Nicht mal, wer die Opfer sind, ist bekannt – bis heute
Und so bleibt Hamburgs mysteriösester Kriminalfall ungeklärt. Bis heute. Die Chance, dass noch mal Licht in die Sache kommt, ist inzwischen gleich null. Der Einzige, der die Wahrheit kennt, ist vermutlich der Täter. Und der dürfte fast 75 Jahre nach dem vierfachen Mord nicht mehr am Leben sein. Die Akte KK II A/1 ist damit geschlossen. Für immer.