Diese Hamburgerin wurde in den Tod geschickt – und hat überlebt
Zeitzeugen erinnern sich an einen endlos langen Zug, der am Gleis des alten Hannoverschen Bahnhofes gestanden hat an diesem 25. Oktober 1941. 1035 Menschen, allesamt Hamburger Juden, hatten keine andere Wahl als einzusteigen. Viele werden geahnt haben, dass dies eine Reise ohne Wiederkehr ist. Andere hofften noch, dass sie irgendwann wieder nach Hamburg zurückkehren dürfen. Für die allermeisten erfüllte sich dieser Wunsch nicht. So gut wie keiner überlebte.
Schon drei Jahre zuvor hatten die Nazis 1000 Hamburger Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft nach Polen abgeschoben – dies ging in die Geschichte als sogenannte „Polenaktion“ ein. Als nächstes waren Hamburgs Sinti und Roma dran: Am 20. Mai 1940 wurden rund 1000 von ihnen nach Belzec deportiert. Die systematische Deportation von Hamburgs jüdischer Bevölkerung begann dann am 25. Oktober 1941, also vor genau 80 Jahren.
Eine der letzte Zeitzeuginnen ist 2020 verstorben: Lucille Eichengreen. Sie schrieb Bücher über ihre Deportation und ihre Erlebnisse in Konzentrationslagern und Ghettos, hielt Vorträge und gab Interviews – immer mit dem Ziel, die jungen Menschen immun zu machen gegen Rassismus, gegen Hass.
Lucille Eichgreen ist 1925 in Hamburg als Cecilie Landau zur Welt gekommen und erlebte den Terror der Nazis als junges Mädchen. 1940 wurde ihr Vater Benno Landau, ein Weingroßhändler, im KZ Dachau ermordet. Wie die Familie von dessen Tod erfuhr? Ein Gestapo-Beamter kam und warf eine Zigarrenkiste mit seiner Asche auf den Küchentisch.
Lucille Eichengreen war eine der wenigen Überlebenden
Hamburgs NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann sprach 1941 bei Diktator Adolf Hitler vor und bat ihn um die Genehmigung, mit dem Abtransport der Juden Richtung Osteuropa beginnen zu dürfen. Der Grund: Kaufmann brauchte freie Wohnungen für die Bürger, die bei alliierten Bombenangriffen obdachlos geworden waren.
16 Jahre alt war Lucille Eichengreen, als ihre Mutter Sara Landau am 21. Oktober 1941 das Einschreiben der Gestapo erhielt: „Ihre Evakuierung aus Groß-Hamburg wird hiermit befohlen“, hieß es da. „Von diesem Befehl sind auch ihre Angehörigen, 1. Cecile Landau, geboren am 1.2.1925, 2. Karin Landau, geboren am 13. 6. 1930, betroffen.“
Vier Tage nur blieben, um Abschied zu nehmen. Dann setzte sich am Hannoverschen Bahnhof, am heutigen Lohseplatz in der HafenCity, der erste Transport des Todes in Bewegung. Ziel: das Ghetto Litzmannstadt – so nannten die Nazis das polnische Lodz.
Die Zustände dort waren unbeschreiblich grausam. Die Deportierten mussten anfangs in riesigen Sälen zu je 500 Leuten hausen. In den ersten Tagen gab es keine Matratzen und keine Lebensmittel. Die Bewohner litten unter Unterernährung, starben massenhaft an Krankheiten oder erfroren im Winter.
C&A, Alsterhaus und Neckermann ließen im Ghetto Litzmannstadt fertigen
Die Nazis sahen in den Gefangenen keine Menschen, sondern lediglich „Menschenmaterial“, dessen Arbeitskraft es auszubeuten galt. Die Juden schufteten als Zwangsarbeiter in der Textilindustrie, produzierten für die Wehrmacht Uniformen. Aber auch zivile Unternehmen wie das Alsterhaus, C & A und die Unternehmen Josef Neckermann und Heinrich Leineweber ließen im Ghetto Litzmannstadt fertigen.
Lucille Eichengreens Mutter starb am 13. Juli 1942. Sie verhungerte. „Meine Schwester Karin und ich haben mit unseren eigenen Händen eine Grube ausgehoben und sie begraben“, so Lucille Eichengreen.
Als nächstes traf es die zwölfjährige Schwester Karin. Unter dem Vorwand, sie werde zu einem Arbeitseinsatz gebracht, transportierten die Nazis sie ins Vernichtungslager Chelmno. Dort wurde sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Lucille Eichengreen hat gesehen, wie sie abtransportiert wurde: „Sie stand auf dem Lastwagen und schaute mich mit ihren großen Augen an. Ich war doch der letzte Mensch, den sie hatte.“
Mehr als 6600 Hamburger Juden wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht
Der Transport vom 25. Oktober 1941 war der erste, mit dem sich die Nazis der Hamburger Juden entledigten. Es folgten noch 16 weitere. Am 8. und am 18. November 1941 verließen knapp 2000 Männer, Frauen und Kinder Hamburg unfreiwillig Richtung Minsk. Fast alle kamen um. Am 6. Dezember 1941 folgten 753 Juden dem Deportationsbefehl nach Riga. Und auch von ihnen überlebte kaum jemand.
Damit war fast die Hälfte der Hamburger Juden innerhalb von drei Monaten „abgewandert“. Bis 1945 transportierten die Nazis mehr als 6600 Jüdinnen und Juden aus Hamburg in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager, wo die allermeisten von ihnen ermordet wurden. Eine beispiellose Barbarei.
Lucille Eichengreen ist die Einzige aus ihrer Familie, die überlebte. Sie hatte unglaubliches Glück: In Auschwitz wurde sie als arbeitsfähig eingestuft, gehörte damit zu den Wenigen, die aus dieser Hölle lebendig wieder rauskamen.
Der Zufall wollte es, dass sie ausgerechnet in ihre Heimat Hamburg gebracht wurde, wo die Nazis sie mit vielen anderen KZ-Insassinnen ins Lagerhaus G sperrten und sie Aufräumarbeiten im Hafen verrichten ließen. Ihren Tag der Befreiung, den 15. April 1945, erlebte Lucille Eichengreen im KZ Bergen-Belsen mit der Ankunft der britischen Truppen.
1946 emigrierte die junge Frau über Paris nach New York, wo sie ihren späteren Mann Dan Eichengreen kennenlernte, einen Emigranten aus Hamburg. Das Paar zog nach Kalifornien und bekam zwei Söhne.
Ab 1991 war Lucille Eichengreen immer wieder in Hamburg, um Vorträge in Schulen, Universitäten und auf Gedenkveranstaltungen zu halten. Auch bei der Einweihung der Gedenkstätte am Lohseplatz war sie zugegegen.
Vom Wiedererstarken des Rechtsextremismus in Deutschland und Europa war sie bitter enttäuscht. Sie starb am 7. Februar 2020.
Irmgard Posner schrieb: „Wir sind durch die Hölle gegangen“
Deportiert am 8. November 1941 nach Minsk: Die Hamburgerin Irmgard Posner und ihr Mann Karl, ein jüdischer Rechtsanwalt. Erhalten geblieben ist ein Brief, den Imgard Posner 1941 an ihre Schwiegermutter Martha aus erster Ehe schrieb. Soeben hat sie erfahren, dass ihre Deportation bevorsteht: „Ich kann es Dir nicht schildern, und Deine Phantasie wird kaum ausreichen, sich vorzustellen, durch welche Hölle wir in den letzten 48 Stunden gegangen sind.“ In dem Brief bittet Irmgard ihre Schwiegermutter darum, sich ihres Sohnes Michael anzunehmen, der aus einer Beziehung mit einem Nichtjuden stammt und deshalb nicht deportiert wird. „Liebe Mama, hilf uns und nimm Michael in Deine sorgende Obhut.“
Das Ehepaar Posner verabschiedet sich von Verwandten. Die beiden besuchen auch Irmgards Cousin, den damals 18-Jährigen Peter Petersen in der Silbersackstraße auf St. Pauli. Ihm schenkt Karl Posner fünf Oberhemden: „Trag du sie. Ich brauche sie jetzt nicht mehr.“ Die Posners machen sich offenbar keine Illusionen über ihr weiteres Schicksal.
Als Irmgard und Karl Posner am Morgen des 8. November das Haus verlassen, um sich, wie befohlen, an der Moorweide einzufinden, erzählen sie dem kleinen Michael ein Märchen: dass es nur eine Erholungsreise sei. Ob der Junge spürt, dass was nicht stimmt? Jedenfalls läuft er zum Sammelplatz am Logenhaus, um seine Mutter noch mal zu drücken. Doch in der grauen Masse todgeweihter Menschen, die dort wartet, kann er sie nicht finden.
Der Junge – heute 87 Jahre alt – wächst ohne Mutter auf. Seine Großmutter zieht ihn groß. Irmgard Posner wird von der SS am 31. Juli 1942 per Genickschuss getötet. Ihr Mann Karl wird noch ins KZ Flossenbürg weiterdeportiert und dort ermordet, vermutlich unmittelbar vor Kriegsende.
„Wir hätten Betten und große Koffer mitnehmen sollen“
Deportiert am 15. Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt: Martha Markus, geboren 1884 in Lüneburg. Sie war als Kontoristin im Geschäft ihrer Brüder tätig. Sie hatte zunächst in der Kielortallee gewohnt und war 1940 in die Eppendorfer Landstraße 46 gezogen. Gemeinsam mit ihr wurden ihr Schwager und ihre Schwester Emma Hinrichs deportiert. Im Ghetto Litzmannstadt erhielten sie noch Unterstützung in Form von Geldüberweisungen von einer Angehörigen. Am 10. Mai 1942 wurde sie im Vernichtungslager Chelmno ermordet.
Erhalten geblieben ist eine Postkarte, die Martha Markus am Tag der Deportation abschickte: „Wir hoffen bald schreiben zu können. Gustav möchte den braunen Hut aufbewahren. Wir danken für alles. Wir hätten Betten u. große Koffer mitnehmen sollen. Nochmals innigen Dank.“
Die Karte belegt, dass Martha Markus nicht ahnte, was auf sie zukommen würde – oder sie verschloss die Augen davor.
Carsten Brosda: „Antisemitismus und Rassismus dürfen keinen Platz bei uns haben“
Anlässlich des 80. Jahrestages wird es am Montag, 25. Oktober, zwischen 16 und 17 Uhr eine Veranstaltung am Gedenkort denk.mal Hannoverscher Bahnhof geben. Daran wird unter anderem Kultursenator Carsten Brosda teilnehmen und darauf aufmerksam machen, wie wichtig das Erinnern ist: „So notwendig wie lange nicht! Der heute immer häufiger offen zutage tretende Antisemitismus und Rassismus dürfen in unserer vielfältigen und bunten Gesellschaft keinen Platz haben.“
Dr. Oliver von Wrochem, der Leiter KZ-Gedenkstätte Neuengamme, sagt: „Der deutsche Vernichtungskrieg im östlichen Europa ermöglichte es dem NS-Regime, auch in Hamburg und in aller Öffentlichkeit seine Mordpläne voranzutreiben. Für Tausende Jüdinnen und Juden waren die Deportationen ein erzwungener Abschied, der mit ihrer Ermordung endete.“
Philipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Hamburg: „Auch in unserer Generation müssen Juden sich gegen Feindseligkeiten und Angriffe schützen, auch in Hamburg. Wir sind es denjenigen, die ermordet wurden, schuldig, hasserfüllte, judenfeindliche Verbrechen viel dezidierter zu benennen und zu bekämpfen, egal von welcher Seite sie kommen. Nur so vermeiden wir, dass Gedenken zum Ritual wird.“
Galina Jarkova von der Liberalen Jüdischen Gemeinde sagt: „Mit unserer Teilnahme wollen wir ein wichtiges Zeichen setzen und zeigen, dass wir die Hoffnung haben und auf eine gemeinsame Zukunft in Hamburg bauen, denn Hamburg ist unser Zuhause. Unsere Gemeinde setzt Hass und Antisemitismus die Botschaft von Miteinander, Verständigung und Nächstenliebe entgegen.“
Bei der Gedenkveranstaltung wird es auch eine Ansprache von Markus Rosenberg geben, Enkel der 1941 deportierten Hamburgerin Irmgard Posner.