Obdachlos in Zeiten der Pandemie: Helfer berichten: „Noch nie so viel Elend gesehen“

    Hilfsorganisationen sind alarmiert: So viel Elend wie während der Pandemie haben sie in den Jahren zuvor nicht auf Hamburgs Straßen gesehen. Obdachlose seien teilweise so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr die Essensausgaben aufsuchen können. Die Helfer wünschen sich, dass die Sozialbehörde die leerstehenden Hotels und Hostels für Notleidende öffnet, die Stadt verfolgt aber ein anderes Konzept. 

    „Wir sehen Menschen, die vor Schwäche nicht allein aufstehen können und seit Tagen nicht die Kraft hatten, sich zu einer Essens-Ausgabestelle zu bewegen. Gar nicht zu reden von der mangelnden Körperhygiene und der medizinischen Versorgung“, berichten Mitarbeiter der Alimaus, die auch in diesem Jahr mit dem Kältebus durch die Hamburger Nächte fahren. Ihre Mission: Obdachlose versorgen oder auf Wunsch in Unterkünfte fahren.

    Obdachlos während Corona in Hamburg – so ist die Lage 

    Auch Sanitäter Ronald Kelm vom Arztmobil Hamburg bestätigt: „Wir haben nie so viel Verelendung gesehen. Viele Menschen sind in einem extrem schlechten Ernährungs- und Allgemeinzustand.“ Sozialverbände schätzten 2019 die Zahl der Obdachlosen in Hamburg auf 2.500, rund die Hälfte davon aus Osteuropa.

    In diesem Winter gilt: Corona hat auch das Leben jener, die auf den Straßen leben, massiv verändert. Die Schließung der Restaurants führt dazu, dass die Tafeln weniger Lebensmittelspenden bekommen, viele Kleiderkammern sind geschlossen, Essensausgaben, Wasch- und Duschmöglichkeiten bei privaten Hilfsvereinen sowie medizinische Angebote wurden reduziert, auch, weil viele der Ehrenamtlichen wegen ihres Alters zur Risikogruppe zählen.

    Hamburg: Viele Obdachlosen-Hilfen nur eingeschränkt möglich

    Die „Bergedorfer Engel“ haben wegen Corona die Verteilungstermine von Kleidung auf der Reeperbahn eingestellt: „Da haben sich sonst oft Gruppen von mehreren hundert Menschen gebildet“, sagt Engel-Gründer Thorsten Basso. Essen und Schlafsäcke werden aber weiter ausgegeben.

    Auch von touristischen Übernachtungsverbot und geschlossenen Theatern sind Obdachlose indirekt betroffen, wie Ronald Kelm vom Arztmobil erklärt: „Durch die ausbleibenden Touristen gibt es viel weniger Pfandflaschen zu sammeln. Und Theater, Oper und Kinos waren Orte, an denen viele Obdachlosenzeitungen verkauft wurden und viel gespendet wurde.“

    Auswirkung der Corona-Maßnahmen für Obdachlose: Nur noch maximal zwei Personen im Kältebus 

    Auch für die Helfer vom Kältebus haben die Corona-Regeln Auswirkungen: Personengruppen von größeren „Platten“ (Schlafplätzen) können nicht mehr wie früher gemeinsam in eine Unterkunft gefahren werden. Maximal zwei Personen dürfen transportiert werden, jedes Mal muss der Bus anschließend gelüftet und desinfiziert werden: „Abende mit solchen Touren werden dann schon recht lang“, heißt es von Alimaus-Ehrenamtlern.

    Das Übernachtungsverbot zum einem Vorteil für Obdachlose werden zu lassen, das ist das Ziel vieler Hilfsorganisationen. Das „Cafée mit Herz“ hat bereits im Frühjahr Erfahrungen gesammelt: „Wir haben im ersten Lockdown 15 Hostelzimmer für sieben Wochen angemietet“, sagt Geschäftsführer Jan Marquardt. 32 Euro kostete die Übernachtung inklusive Frühstück.

    Können Obdachlose nicht einfach in Hotels schlafen?

    Die Bilanz war durchweg positiv: „Es gab keine Probleme mit Vandalismus oder Diebstählen, es ist einfach nichts passiert.“ Jeden Tag kamen Sozialarbeiter in das Hostel. Auch die „Bergedorfer Engel“ sammeln online Spenden, um Obdachlose in Hotelzimmern unterzubringen. „Warum kann die Stadt die leerstehenden Hotelzimmer nicht für Obdachlose anmieten?“, fragt sich der Cafée mit Herz-Chef: „Stattdessen werden die Menschen in Gruppenunterkünften untergebracht, in denen die Abstände nicht eingehalten werden können.“

    Was spricht gegen die Anmietung von Hostelzimmern durch die Stadt? „Eine Unterbringung in Hotels, wie sie eine private Initiative umgesetzt hat, kann dann eine sinnvolle Ergänzung sein, wenn die Anbindung an das restliche Hilfesystem gut ist, also Vermittlungserfolge erzielt werden können und es sich nicht nur um eine temporäre Maßnahme handelt“, so Martin Helfrich, Sprecher der Sozialbehörde zur MOPO: „Ein Ersatz für das staatliche Angebot des Erfrierungsschutzes kann diese Unterbringungsform nicht sein. Sie wird durch die Stadt in Einzelfällen gewählt, in denen die gesundheitliche Situation oder spezielle Lebenslage das erforderlich macht.“

    Hamburg: 1000 Schlafplätze für Obdachlose

    Den Vorwurf, in den Unterkünften könnten die Abstände nicht eingehalten werden, weist der Behördensprecher zurück: „Im Winternotprogramm haben wir 1000 zusätzliche Schlafplätze geschaffen. Dadurch haben wir auch räumlich mehr Möglichkeiten, um Abstände einzuhalten.“ Trotzdem, so berichten Helfer, meiden viele Obdachlose die Unterkünfte aus Angst vor Ansteckung.

    Markthalle in Hamburg: Hier gibt es gutes Essen

    Das Winternotprogramm der Stadt ist einerseits ein nächtlicher Erfrierungsschutz, das heißt, tagsüber müssen die Bewohner die Einrichtungen verlassen. Um die Versorgung auch am Tag sicherzustellen, hat Hamburg gerade eine weitere Tagesstätte in Betrieb genommen: Die derzeit ungenutzte Konzert-Location „Markthalle“ am Hauptbahnhof ist nun Anlaufstelle für Menschen in Not. 200 Menschen können hier coronakonform mit Mahlzeiten versorgt werden. 

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    Heinz Hemmersbach (60) ist ein Kölner Lebemann und kam vor rund einem Jahr nach Hamburg, nachdem ihn die Liebe zu einer Frau in den Norden gebracht hatte, die aber in die Brüche ging. In seiner Heimatstadt hat er einst selbst Obdachlosen geholfen und von der Straße geholt. Vor allem das Angebot in der Markthalle empfindet der ehemalige Steinmetz als überragend. Einen Job im Hotel als „Junge für alles“ hat er wegen der Pandemie verloren. Er will sich aber nicht entmutigen lassen.  

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    Für Heinz Hemmersbach (60), der wegen Corona seinen Job in einem Hotel verloren hat, kommt das Essen in der Markthalle einem „Vier-Sterne-Hotel gleich“. Vor drei Wochen wurde er ausgeraubt und zusammengeschlagen, musste ins Krankenhaus. „Wenn Du unten bist, wird immer weiter getreten“, so das bittere Fazit des gelernten Steinmetzes, der früher selbst Obdachlosen half. Hier sei aber ein sicherer Ort, die Mitarbeiter seien äußerst fürsorglich und würden jedem Hilfe anbieten.

    Die Stimmung in der Markthalle ist ruhig, auch Leopold Kogler (40) aus Österreich, seit ein paar Monaten in Hamburg gestrandet, kommt gerne her.

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    Leopold Kogler (40) kam vor ein paar Monaten nach Hamburg, obwohl er am liebsten in Australien oder in den USA gelandet wäre. Der 40-Jährige hat in Österreich als Ingenieur gearbeitet bis er seinen Job verlor. Zu seinen drei Kindern hat er keinen Kontakt, auch seine restliche Familie erreicht laut eigener Aussage nicht mehr. In Hamburg kümmerte sich zunächst die Bahnhofsmission um ihn, jetzt sucht er einen Ausweg aus seiner derzeitigen Lage.

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    Kontakt zu seiner Familie und seinen drei Kindern hat er keinen mehr, obwohl er es immer wieder versuche. „Es ist schon einsam“, aber die Hilfsangebote in Hamburg seien deutlich besser als in Österreich, sagt er. Miroslav (59) aus Polen lebt seit sieben Jahren auf Platte und konnte bei den Hamburgern bislang keine abfallende Spendenbereitschaft wegen Corona feststellen.

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    Miroslav (59) kommt aus Polen und lebt seit zwölf Jahren in Deutschland – sieben davon auf der Straße. Die Markthalle sei freundlicher und durch die zentrale Lage besser zu erreichen als andere Einrichtungen, erzählt er der MOPO. Miroslav trifft hier Freunde, mit denen er sich austauschen kann und freut sich über die sozialen Kontakte. 

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    In der Markthalle kommt er mit Freunden zusammen, genießt den sozialen Kontakt. Am liebsten würde er wieder Arbeit finden und ein Zimmer sein Eigen nennen können.

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    Pluto (44) kommt ursprünglich aus Polen und lebt seit 27 Jahren in Deutschland. Der ehemalige Schweißer hat seine Frau und Kind verloren und lebt seit 14 Jahren auf der Straße. Pluto mag die Markthalle. Sie sei sehr ruhig, habe freundliches Personal und kurze Wege, erzählt er der MOPO.

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    Arbeit hätte Pluto (44) auch gerne wieder. Früher hat er als Schweißer gearbeitet, ein neuer Job ist aber nahezu aussichtslos, weil er extrem körperlich eingeschränkt ist.

    Für Birgitt (56) verlief das Pandemie-Jahr wie in einem schlechten Drehbuch. Im April brannte ihre Wohnung ab, seitdem ist sie obdachlos.

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    Birgit (56) ist seit April obdachlos, weil ihre Wohnung ausgebrannt ist. Sie lebt derzeit in einer Unterkunft von „Fördern und Wohnen” und ist jetzt regelmäßig in der Markthalle. Birgit mag die Atmosphäre und freundlichen Menschen. 

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    Richtig zugehörig in der Markthalle fühlt sie sich trotz der freundlichen Atmosphäre nicht, verbringt vor allem Zeit alleine an der frischen Luft.

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    Kerrin Thomsen (61) träumt davon, in Afrika Hilfsprojekte zu initiieren. Derzeit lebt sie in einer Obdachlosenunterkunft in Hamburg, stammt eigentlich aus NRW. Die Unterstützung in der Corona-Pandemie durch die Stadt ist ihrer Meinung nach sehr gut, ein paar mehr Street Worker würde sie sich aber wünschen. 

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    Patrick Sun/ Patrick Sun

    Kerrin Thomsen (61) wohnt derzeit in einer Unterkunft an der Schmiedekoppel und kommt ebenfalls zum Essen in die Markthalle. Sie sieht sich als Helferin, geht auf andere zu und versucht bei Sprachbarrieren zu vermitteln. Ihr großer Traum: „Ich will bald nach Ghana fliegen, um dort mit meinem Mann Hilfsprojekte zu unterstützen.“ Das Angebot in Hamburg für Hilfsbedürftige sei toll, sie sähe nur noch ein wenig Verbesserungsbedarf bei der Zahl der Street Worker.

    Insgesamt, betont Behördensprecher Helfrich, würde kaum eine andere Großstadt sich so um Obdachlose kümmern wie Hamburg. Neben der Unterbringung gibt es umfangreiche Beratungen, für Obdachlose aus Osteuropa etwa zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer.

    Helfer Ronald Kelm überzeugt das nicht: „Es gibt keine Alternative zur Einzelunterbringung, wenn man keine Todesfälle riskieren will.“

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