„Keine Vollprofis“: Video-Debatte: Polizei-Ausbilder kritisiert Vorgehen der Beamten
Polizeigewalt oder nicht? Hamburg diskutiert über das Vorgehen vom Beamten gegen einen Jugendlichen, der zuvor verbotenerweise mit einem E-Scooter auf dem Gehweg unterwegs war. Die MOPO sprach mit Rafael Behr (62), Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, über die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes.
Herr Behr, wie wirkt die Szenerie auf Sie?
Rafael Behr: In dem Video ist zu erkennen, dass die Polizisten einen relativ hilflosen und unkoordinierten Eindruck gemacht haben.
Niemand nimmt das Heft des Handelns in die Hand. Dies könnte daran liegen, dass die Beamten aus unterschiedlichen Organisationseinheiten zusammengekommen sind, der ältere Stadtteilpolizist und die nachgekommenen jungen Polizisten haben jedenfalls kein geordnetes Verhältnis zueinander.
Woran machen Sie das fest?
An dem gebildeten Halbkreis. Da wird ohne erkennbare taktische Absprachen agiert. Die Situation hätte sicher anders ausgesehen, wenn ein Gruppenwagen der Bereitschaftspolizei vorgefahren wäre, mit einem Einsatzleiter, der das Kommando übernommen hätte.
Die anwesenden Beamten wirkten mit der Situation überfordert. War das am Ende Auslöser für das brutale Vorgehen?
Ich erkenne in dem Video weder eine Polizeibrutalität, noch eine andere Form von kriminalisierbarem Verhalten. Ich erkenne in erster Linie ein unsicheres Verhalten der Einsatzkräfte.
Aber ist es wirklich notwendig, mit mehreren Beamten auf einen 15-Jährigen loszugehen?
Dazu muss man sagen, dass das Lebensalter der Zielperson für die Beamten in so einer Situation eine untergeordnete Rolle spielt. Es geht eher darum, dass er körperlich stark ist, dass er einen sicheren Stand hat und dass er eine Bedrohung inszenieren konnte.
Inszenierung?
Ja, ich spreche da von Selbstinszenierung – auf beiden Seiten. Es geht darum, dass er sich gewehrt hat. Und das bringt Polizisten in dieser Situation in die Defensive. Und wenn man solche Situationen nicht kennt, macht einen das unsicher.
Aber sollten Beamte solche Fälle nicht kennen? Sollten sie in der Ausbildung nicht auch auf genau solche Situationen vorbereitet werden?
Es ist richtig, dass es in der Ausbildung Einsatztraining gibt. Dort lernt man auch, wie man Griffe anwendet – allerdings in der Laborsituation. Die Sparringspartner sind Kollegen, man weiß, was zu tun ist. Da ist jedoch weder Adrenalin im Spiel noch ist der Partner aggressiv.
Der 15-Jährige war jetzt aber auch nicht gerade die Art von Person, die gerade eine Kneipe zerlegt hat…
Das ist schon richtig. Aber Sie müssen folgendes bedenken: Der Stadtteilpolizist kommt mit seinem Anliegen, die Personalien aufzunehmen, nicht weiter und ruft deswegen Unterstützung.
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Wenn ein Polizist Verstärkung anfordert, sind seine Kollegen direkt in Alarmbereitschaft, weil sie denken, es ist ernst. Und dann kann es auch passieren, dass man vergisst, was man in der Ausbildung gelernt hat.
Kommen wir nochmal zur Ausgangssituation. Wie ist die gesetzliche Grundlage, wenn sich jemand nicht ausweisen will?
Hat jemand keinen Ausweis oder will ihn nicht zeigen, dann muss er zur Personalien-Überprüfung mit auf die Dienststelle, notfalls mit Zwang. Das ist traditionelle Polizeiarbeit nach dem Erlkönig-Prinzip, wo es heißt: „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“. Die Gewaltanwendung steht jedoch erst am Schluss des Handlungskonzepts der Polizei. Dieses Konzept ist allerdings so eingefahren, dass niemand auf alternative Ideen kommt.
Was hätten die Beamten anders machen sollen?
Um die Personalien zu überprüfen, hätten sie zum Beispiel zur nahegelegenen Schule gehen können, um sich dort nach ihm zu erkundigen. Dafür war es später dann zu spät. Aus polizeilicher Sicht ist nicht vorgesehen, eine begonnene Maßnahme, wie die Mitnahme zur Dienststelle, wieder ruhen zu lassen. Die Polizei würde sonst an Autorität einbüßen.
Sie sagen, man hätte bereits im Vorfeld anders agieren können. Hätte man nicht aber auch dann, als sich die Situation sich bereits hochgeschaukelt hat, viel mehr deeskalieren müssen?
Es gab diese Momente, wo eine Deeskalation möglich gewesen wäre. Immer dann, wenn die Beamten und der Jugendliche auf Abstand waren, gab es die Möglichkeit, die Situation zu entspannen.
Das ist aber nicht geschehen.
Nein. Und genau das gibt den Anlass zur Überlegung, ob Polizisten nicht mehr im Bereich der Deeskalation geschult werden müssten. In dem Video ist der eine Beamte zu sehen, der immer wieder gebrüllt hat, dass sich der Jugendliche auf den Boden legen soll. Das hat er in der Ausbildung bestimmt so gelernt. Und dort war der Ausbilder zufrieden. Aber im Ernst sieht das halt anders aus.
Aber es kann doch nicht sein, dass man mit einem 15-Jährigen, der verbotenerweise mit seinem E-Scooter über den Gehweg gefahren ist, genauso wie mit einem Schwerverbrecher umgeht.
Das wissen wir heute. Aber die Wahrnehmung der Polizisten richtet sich erste einmal nach der augenblicklichen Gefahr, die von einem Menschen ausgeht, egal was der Anlass war. Der polizeiliche Maßnahmenkatalog mündet halt oft im Gewalteinsatz.
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Erst kommt die Belehrung, dann die Androhung von Gewalt und dann kommt der Gewalteinsatz. In dem Video habe ich aber keinen Gewaltexzess gesehen, da dürfte es rechtlich keinen großen Kritikpunkt geben. Es wird aber deutlich, dass wir es nicht mit Vollprofis zu tun haben.
Das sollten ausgebildete Polizisten aber sein.
Polizisten sind immer auch Menschen. Und sie sind oft nicht identisch mit denen, die man sich als Idealtypus so vorstellt. Gerade junge Beamte können nicht immer souverän agieren. Auf einem anderen Blatt steht jedoch die Rolle des Stadtteilpolizisten. Da stelle ich mir die Frage, warum der seine Kompetenz nicht ausgereizt hat. Der ist ein erfahrener Mensch und Polizist, sonst würde er nicht diesen bürgernahen Job machen. Und trotzdem könnte es sein, dass er vielleicht nicht alle Eigenschaften eines idealen Schutzmanns hat.
Optimal wäre es doch eigentlich gewesen, wenn man die Situation ohne Körperkontakt gelöst hätte, oder?
Manchmal ist es in der Tat möglich, solche Fälle verbal zu lösen. Junge Polizisten können mit jüngeren Leuten oft auf Augenhöhe kommunizieren, weil sie eine gemeinsame Sprache sprechen, ähnliche Interessen haben. Vielleicht hätte einer sagen können, dass er auch gerne mit dem E-Scooter fährt, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Aber sowas wird weniger geübt, als die klassische Polizeimaßnahme. Deeskalierende Gespräche sind die hohe Kunst der Kommunikation.
Wie bringt man den Beamten sowas bei?
Man sollte vor allem die Fähigkeiten zur umfassenden Situationsdiagnostik schulen. Polizisten müssen beim Eintreffen am Einsatzort erkennen, in welcher Eskalationsstufe sie sich befinden. Es bietet sich auch an, das aktuelle Video künftig als Lehrvideo in der Ausbildung einzubringen und mit den Polizeianwärtern zu erläutern, was da schief gelaufen ist.
In dem Video ist auch zu erkennen, dass eine Polizistin die Person hinter der Kamera auffordert, das Filmen sein zu lassen. Dürfen Polizisten nicht gefilmt werden?
Als Zivilgesellschaft darf man staatliches Handeln prinzipiell filmen, sofern man keine Detailaufnahmen von den Gesichtern der Beamten macht.
Aber wenn das so ist, wie Sie sagen, warum fordern die Polizisten dann, dass das Filmen eingestellt wird?
Das ist immer eine spezielle Situation, wenn Beamte im Einsatz gefilmt werden. Das sorgt für eine Verunsicherung. Tatsächlich wird man im Ausbildungskontext auf die Bebilderung hingewiesen. Polizisten müssen ihre Persönlichkeitsrechte aber nicht an den Nagel hängen. Detailaufnahmen vom Gesicht sind zum Beispiel nicht zulässig, da gilt auch das Recht am eigenen Bild.