Mord, Vergewaltigung, Diebstahl: Kriminalität in Hamburg wächst „besorgniserregend“
Ist Hamburg im vergangenen Jahr unsicherer geworden? Nach vorläufigen Zahlen gibt es mehr Gewaltverbrechen, Einbrüche und Diebstähle. Die Polizei ist überlastet, meinen Gewerkschafter.
Noch liegt die Kriminalstatistik der Hamburger Polizei für das vergangenen Jahr nicht vor, doch Polizeigewerkschafter gehen von einer Zunahme der Straftaten aus. Der Senat hat bereits vorläufige Angaben zur Statistik gemacht. Demnach stieg die Gewaltkriminalität in den ersten drei Quartalen 2023 um 12,9 Prozent an. Zur Gewaltkriminalität zählen Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub und schwere Körperverletzung.
Die Zahl der gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen dürfte allein durch den Amoklauf bei den Zeugen Jehovas im März vergangenen Jahres deutlich gestiegen sein. Am 9. März hatte ein ehemaliges Mitglied der Religionsgemeinschaft, der 35 Jahre alte Philipp F., sieben Menschen – darunter ein ungeborenes Kind – im Stadtteil Alsterdorf getötet und anschließend sich selbst.
Die Polizei registrierte auch mehr Gewalttaten gegen Frauen durch deren Partner oder Ex-Partner. Bei Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und schweren sexuellen Übergriffe in Partnerschaften wurde laut Senat von Januar bis September ein Plus von 24,4 Prozent verzeichnet. Bei Taschen- und Ladendiebstählen ergaben sich im gleichen Zeitraum Steigerungen von 46 beziehungsweise 37 Prozent. Die Wohnungseinbrüche nahmen im ersten Halbjahr um 24,1 Prozent zu.
„Strafanzeigen liegen bei Polizei unbearbeitet auf Halde“
„Die Zahlen sind besorgniserregend“, sagt der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg, Jan Reinecke. Er beklagt, dass viele Strafanzeigen bei der Polizei unbearbeitet „auf Halde“ lägen und damit keinen Eingang in die Statistik fänden. Denn dort tauchten nur Fälle auf, bei denen die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen sind. Reinecke sieht die Schuld für die Überlastung auch beim Gesetzgeber. Es würden immer komplexere Gesetze verabschiedet, ohne die notwendigen Ressourcen für die Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen. Als Beispiel nennt er die Hasskriminalität.
Beleidigungen und Bedrohungen von Politikern und anderen Personen seien früher oft nicht angezeigt worden. Jetzt würden viele Taten in sozialen Netzwerken zur Anzeige gebracht. Auch das Thema Kinderpornografie sei durch die automatisierte Auswertung der Server von Facebook, WhatsApp und anderer Dienste in den USA sehr viel größer geworden. Mutmaßliche Taten würden über das Bundeskriminalamt an die Polizeibehörden der Länder weitergeleitet. Nach dem Legalitätsprinzip müsse die Polizei jedem Verdacht einer Straftat nachgehen. Überlastet sei die Kriminalpolizei auch mit Ermittlungen zu Betrügereien im Internet.
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Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Thomas Jungfer, glaubt, dass die Zunahme der Kriminalität im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 nicht ganz so extrem sei. Ein Grund für den Anstieg sei auch, dass die Polizei das sogenannte Dunkelfeld aufgehellt habe, etwa durch Schwerpunkteinsätze am Hauptbahnhof. Einen Teil der wachsenden Gewaltkriminalität erklärt Jungfer mit Verteilungskämpfen auf dem Drogenmarkt. Nach der Verhaftung zahlreicher Täter infolge der Entschlüsselung des Krypto-Messengerdienstes EncroChat tauchten nun neue Dealer auf. „Vom großen Kuchen will jeder ein Stück abhaben“, sagt Jungfer.
Im Jahr 2022 war die Zahl der Straftaten in Hamburg um 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Im Vergleich zu 2019 betrug der Anstieg aber nur 0,2 Prozent. Bei der Gewaltkriminalität ergab sich eine Zunahme um 11,5 Prozent zum Vorjahr und von 5,5 Prozent gegenüber 2019. Die Hamburger Polizei ist nach Ansicht von Jungfer gut aufgestellt. Kritisch sieht der Gewerkschafter dagegen die Rolle der Justiz. Täter müssten schneller und vor allem länger eingesperrt werden, fordert er. Heranwachsende würden zu oft nach Jugendstrafrecht verurteilt. Es brauche keine neuen Gesetze oder eine Strafrechtsverschärfung. Die bestehenden Gesetze müssten nur konsequenter angewendet werden.
Straftaten am Jungfernstieg: „Prävention und Streetworking können vieles abfedern“
Der stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Lars Osburg, glaubt, dass junge Menschen zu oft dem Lebensentwurf eines Gangster-Rappers folgten. Wenn es zu Halloween oder an Treffpunkten wie dem Jungfernstieg zu vielen Straftaten komme, müsse darum nicht nur die Polizei reagieren. Es brauche einen übergreifenden Ansatz verschiedener Behörden. „Prävention und Streetworking können vieles abfedern“, meint Osburg. Nach mehreren aufsehenerregenden Straftaten am Jungfernstieg hatte die Polizei im vergangenen Juni die „Soko Alster“ gegründet.
Die Kriminalität am Hauptbahnhof hält Osburg für nicht so dramatisch. Es handele sich meist um Auseinandersetzungen innerhalb der Szene, etwa einen Streit um eine Bierflasche, eine Crack-Pfeife oder einen Diebstahl bei einem schlafenden Obdachlosen. „Der Normalbürger ist nicht so der Gefahr ausgesetzt“, sagt Osburg. Die im April eingeführten gemeinsamen Streifen von Landes- und Bundespolizei sowie DB-Sicherheit und Hochbahn-Wache deckten mehr Straftaten auf. Seit dem 1. Oktober gilt im Umkreis des Hauptbahnhofs ein Waffenverbot. Laut Bundespolizei zählte der Hamburger Hauptbahnhof im Jahr 2022 zu den gefährlichsten Bahnhöfen in Deutschland.
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Problematischer sind nach Ansicht von Osburg die zunehmenden Messerangriffe und Schusswaffendelikte, vor allem im Bereich der Drogenkriminalität. Von einer „Clankriminalität“ könne in Hamburg nicht gesprochen werden, weil es in der Hansestadt nicht um Familien gehe. Es gebe aber „multiethnische Gruppen“, die ihr Leben auf kriminelle Weise finanzierten. Beide Gewerkschafter fordern, die Polizei zu entlasten. „Eine richtige Aufgabenkritik hat es nie gegeben“, sagt Osburg. Jungfer plädiert dafür, Bagatelldelikte zu Ordnungswidrigkeiten zu erklären.