Udo Lindenberg ist 75: Höhenflug und Tal-Abfahrt: Das Leben des Panikrockers
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Nein, singen kann er nicht. Und doch ist er ein musikalisches Genie. Er ist einzigartig und unverwechselbar, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. „Was ist ein Popstar anderes als eine Gattung, die nur aus einer Person besteht?“, hat Kollege Kai Müller vom „Tagesspiegel“ mal über ihn geschrieben. Besser kann ich es auch nicht sagen. Gemeint ist er: Udo Lindenberg. Heute feiert der „Panikrocker“ seinen 75. Geburtstag.
Er trägt ’nen Schlapphut, den er tiefer und tiefer ins Gesicht zieht. Daraus quillt sein wallendes Haar hervor. Ob es oben auch noch wallt – das wissen wir nicht so genau, da er sich ohne Kopfbedeckung eigentlich nicht in der Öffentlichkeit zeigt.
Keine Panik auf der Titanic
Wenn 75-Jährige Fantasie-Uniform-Jacken und eng anliegende gestreifte Hosen tragen, dazu neongrüne Socken und knöchelhohe Reebok Classics, dann kann das ganz schön peinlich aussehen. Nicht bei ihm. Nein, der Lindenberg verkleidet sich nicht. Der ist so. Er spielt nicht coole Socke. Er ist die coole Socke. Keine Panik auf der „Titanic“. Und alles klar auf der „Andrea Doria“.
Udo Lindenberg hat Geschichte geschrieben
Wie ausgerechnet ich dazu komme, einen Text über Lindenberg zu dessen 75. Geburtstag zu verfassen, und nicht jemand aus der Musikredaktion? Noch vor ein paar Tagen hätte ich damit selbst nicht gerechnet. Dann aber hat mich der Chef gefragt, ob ich das wohl mache. Weil er denkt, Leute meines Jahrgangs haben die Karriere des Panikrockers ja live miterlebt. Wahrscheinlich glaubt er, ich sei ein Fan.
Bin ich aber nie gewesen. Ich hatte Schulfreunde damals auf der Albert-Schweitzer-Realschule in Remscheid-Lennep, die total auf Lindi abfuhren, die jede Platte kauften, die der Panikrocker auf den Markt brachte. Plötzlich hörte man überall Lindenbergs Alliterationen. Elli Pyrelli und Rudi Ratlos. Ich dagegen konnte über diesen Humor nicht lachen. Konnte mit Lindenbergs schnodderiger Art nichts anfangen. Seine Haare, das komische Dahergeschlurfe, diesen Schlafzimmerblick – fand ich alles doof.
Erst in letzter Zeit ist meine Aversion in Respekt umgeschlagen. Lindi ist älter geworden, ich auch – vielleicht liegt es daran. Und jetzt, da ich mich ausgiebig mit seinem Lebenslauf beschäftigt habe, fange ich sogar langsam an, ihn zu bewundern.
Lindenbergs Vater träumte vom Leben als Dirigent
Geboren wird Udo Gerhard Lindenberg am 17. Mai 1946 in Gronau nahe der holländischen Grenze. Er ist das zweite von vier Kindern, die Mutter Hermine zur Welt bringt. Vater Gustav ist Installateur, träumt heimlich davon, Dirigent zu sein. Immer wenn der Vater randvoll ist, weckt er mitten in der Nacht die ganze Familie, stellt sich auf den Küchentisch und dirigiert die Kinder, die ein Orchester mimen müssen.
„Damals“, so sagt Lindenberg später in einem Interview, „schwor ich mir, niemals so zu werden. Ich wollte nicht nur breit der Dirigent meines eigenen Lebens sein!“
Lindenberg lernt Kellner und spielt Schlagzeug
Lindi verlässt die spießige Enge Gronaus, beginnt eine Ausbildung zum Kellner, arbeitet in einem Düsseldorfer Hotel und macht nebenbei Musik in Altstadtkneipen. Schon als Kind hat er immer nur getrommelt, anfangs auf Ölfässern, dann auf dem Schlagzeug, das der Papa ihm spendiert.
Der Junge ist als Drummer echt begabt, gewinnt 1960 einen Nachwuchswettbewerb, probiert sich in verschiedenen Bands aus, studiert ein paar Semester an der Musikhochschule Münster, musiziert sogar in Klaus Doldingers legendärer Jazzrock-Formation Passport. Lindenberg ist mit von der Partie, als Doldinger die berühmte „Tatort“-Melodie einspielt.
Er findet keinen Sänger und muss selbst ran
Lindenbergs Solokarriere beginnt Anfang der 1970er Jahre in Hamburg, als er das Panikorchester gründet. Gut, dass er keinen Sänger findet, denn nun muss er selber ran. Zur selben Zeit, als in der DDR Erich Honecker an die Macht kommt, die Amerikaner in Vietnam Agent Orange einsetzen und die „Sendung mit der Maus“ erstmals über den Bildschirm flimmert, ja, genau zu dieser Zeit bringt Udo sein erstes Album raus. „Lindenberg“ heißt es, er singt auf Englisch – und die Scheibe floppt.
Da beschließt er, es mal auf Deutsch zu probieren. Das ist sehr mutig, denn abgesehen von Ton Steine Scherben hat sich das bis dahin kein Rockmusiker getraut. Es wird ein Mega-Erfolg! Mit „Andrea Doria“, seinem dritten Album, wird der Mann, der mehr nuschelt als singt, fast über Nacht zum Star.
Die Texte seiner Lieder sind was ganz Besonderes – das ist echt Literatur! Darin hält er den Spießern den Spiegel vor, macht den Menschen Mut, sich ihre Träume zu bewahren, wettert gegen Nazis, tritt für Abrüstung und Umweltschutz ein. Lindenbergs Credo lautet: „Make love, not war.“
Mit Otto Waalkes und Marius Müller-Westernhagen in einer WG
In seiner Anfangszeit in Hamburg lebt Udo mit Leuten in einer WG zusammen, die damals noch genauso unbekannt sind wie er, es dann aber ähnlich weit bringen: Otto Waalkes und Marius Müller-Westernhagen beispielsweise. Die Adresse der „Villa Kunterbunt“: Rondeel 29, Winterhude. Dort werden wilde Partys gefeiert, Lindenberg schreibt seine Lieder und trägt sie seinen Mitbewohnern vor. Es wird musiziert und geblödelt und manchmal gibt es auch handfesten Streit – darüber, wer den Abwasch macht, wer den Müll runterbringt.
Udo zieht Honecker durch den Kakao
Legendär ist, wie Udo Lindenberg den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker durch den Kakao zieht. In den 80er Jahren ist Lindi nicht nur in West-, sondern auch in Ostdeutschland ein Star – und würde gerne eine Tour durch die DDR machen. Als ihm das verwehrt wird, schreibt er den Song „Sonderzug nach Pankow“. Unvergesslich diese Zeilen: „Ich hab ’n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker. Das schlürf ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker …“
Die Stasi schäumt. Und doch bekommt Lindenberg jetzt die langersehnte Erlaubnis, im Palast der Republik aufzutreten – allerdings vor 4000 sorgsam ausgewählten Jugendlichen. „Drinnen saßen nur linientreue Steifftiere unter Valium, die echten Paniker forderten draußen ihren Udo“, erinnert er sich später. Vier Lieder darf er singen – und bevor er geht, ruft er in den Saal: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Weg mit allem Raketenschrott in der Bundesrepublik und der DDR. Nirgendwo wollen wir eine Rakete sehen, keine Pershings und keine SS-20!“
Aus diesem Vorfall zieht die DDR-Führung Konsequenzen und sagt Lindenbergs Konzerttournee, die im Jahr darauf stattfinden soll, wieder ab. Bis 1990 müssen die Fans im Osten warten: Dann endlich spielt ihr Idol für sie.
Mit 4,7 Promille kommt er ins Krankenhaus
Anders zu sein als sein Vater – das hat sich Udo Lindenberg vorgenommen. In einem Punkt aber gelingt ihm das nicht: Den Hang zum Alkohol, den hat er von ihm geerbt. 1989 erleidet er einen Herzinfarkt, säuft aber weiter, manchmal zwei Flaschen Whisky am Tag. Mit 50 ist er Alkoholiker. Als er 55 ist, wird er mit 4,7 Promille ins Krankenhaus eingeliefert. „Ich hatte nur noch Restblut im Alkohol“, bekennt er freimütig. Die Nacht säuft er auf dem Kiez durch, und wer vor dem frühen Abend versucht, ihn zu erreichen, wird von der Telefonistin des Hotels „Atlantic“, in dem er wohnt, abgewimmelt. „So früh dürfen wir ihn nicht stören.“
Im Dezember 1998 passiert dann an einem Sonntagmorgen gegen acht Uhr Folgendes: Ein Arzt namens Dr. Günter P. möchte gerne in Ruhe frühstücken – und fühlt sich gestört vom besoffenen Lindenberg, der an einem Tisch am anderen Ende des „Atlantic“-Restaurants mit seiner Entourage Weihnachtslieder schmettert. Der Arzt beschwert sich – mit dem Ergebnis, dass Lindenbergs Begleiter ihn als „Wichser“ und „Schlappschwanz“ beleidigen. Lindenberg geht dem Arzt schließlich mit einem Rotweinglas in der Hand nach und fordert das Hotelpersonal auf, „den Kerl da“ sofort aus dem Hotel zu werfen.
Der Tod des Bruders verändert alles
Abends wird in der Stadt die MOPO mit der Schlagzeile „Lindenberg – Pöbelei im Hotel“ verkauft. Die Titelstory ist von mir. Kaum bin ich vom Dienst zu Hause – ich sitze vorm Fernseher und sehe „Tatort“ –, da ruft der Schauspieler Heinz Hoenig an und fordert mich in Lindenbergs Namen auf, doch mal ins „Atlantic“ zu kommen – einen trinken … Heute ärgert es mich, dass ich nicht darauf eingegangen bin.
Lindenbergs Bruder stirbt 2006 im Alter von 67 Jahren – dieser Verlust ändert für Lindenberg alles. Der Panikrocker kommt zur Besinnung. Wird wieder nüchtern. Und rät auch anderen vom Alkohol ab: „Man macht nur Mist und benimmt sich scheiße“, sagt er. Heute genehmigt Lindenberg sich nur noch ab und an ein Eierlikörchen.
Ohne Alkohol klappt’s auch wieder mit der Karriere. Zehn Jahre war er weitgehend weg vom Fenster, hat nur noch seine „Likörelle“ gemalt. Aber 2008, im Alter von 61 Jahren, feiert er ein unfassbares Comeback. „Mann, ich hab mich selber fast verlor’n/Doch so’n Hero stürzt ab, steht auf, startet von vorn“, singt er im Song „Ich zieh’ meinen Hut“ und landet mit „Stark wie zwei“, seinem 35. Studioalbum, Top-Chart-Platzierungen. Im Juni 2011 gibt er ein „MTV-Unplugged“-Konzert in Hamburg – ein Ritterschlag für jeden Musiker. 2011 startet sein Musical „Hinterm Horizont“ und ist megaerfolgreich – genau wie der Film „Lindenberg! Mach dein Ding“, der 2020 in die Kinos kommt.
„Ich würd’s wieder genauso tun, genauso, wie es war“
Wetten, dass auch das Best-of-Album „Udopium“, das gestern anlässlich seines Geburtstags erschienen ist, ein Renner wird? Darauf vereint ist ein halbes Jahrhundert Musikhistorie. Vier Songs sind neu. Einer davon – er gefällt mir besonders gut – heißt „Wieder genauso“. Lindenberg zieht darin Bilanz.
Nachts besucht ihn der Tod und fragt: „Wenn du heute noch mal anfangen könnt’st von vorn: Welchen anderen Weg hätt’st du vielleicht genommen? Welche Partys ausgelassen? Und welchen Fehler nich’ gemacht?“ Und wie fällt Lindenbergs Antwort aus? „Ich würd’s wieder genauso tun, genauso, wie es war. Mit jedem Höhenflug und jeder Tal-Abfahrt.“