Vorfahrt für Autos: Dieses Gesetz lässt Verkehrsplaner in Hamburg verzweifeln
Mehr Tempo 30 und autoarme Quartiere? Immer wieder scheitern solche Vorhaben in Hamburg am Straßenverkehrsrecht. Denn die deutschen Verkehrsgesetze sind nicht für die Mobilitätswende gemacht worden, sondern stammen aus einer Zeit des automobilen Aufbruchs: dem Deutschen Kaiserreich. Doch nun könnte da etwas in Bewegung kommen.
Tischtennis auf der Straße, Platz für Fußgänger und massig Sitzgelegenheiten – das Gebiet rund um den Spritzenplatz im Stadtteil Ottensen mit seinen gepflasterten Straßen, Cafés, Restaurants und Geschäften wurde im September 2019 zur autofreien Zone erklärt. Lange währte das allerdings nicht. Das Hamburger Verwaltungsgericht gab Anfang 2020 Eilanträgen von zwei Gewerbetreibenden statt, die gegen das Projekt „Ottensen macht Platz“ geklagt hatte.
Hamburg: „Ottensen macht Platz“ 2020 gerichtlich gestoppt
Der Bezirk Altona gab die Umgestaltung aber nicht auf, nannte das Projekt in „freiRaum Ottensen“ um. Im September 2022 wurde die zentral gelegene Große Brunnenstraße für Autos gesperrt, nur noch Anwohner, Lieferdienste und alle mit einer Ausnahmegenehmigung durften reinfahren. Das Verwaltungsgericht fand auch dieses Mal einen Formfehler, jetzt muss der Bezirk nachbessern. Solange rollen wie gewohnt Autos durch die Große Brunnenstraße.
Fakt ist: Die deutschen Verkehrsgesetze sind nicht für eine Mobilitätswende gemacht worden, sondern stammen aus einer Zeit des automobilen Aufbruchs. Die erste Fassung des „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ geht zurück in das Deutsche Kaiserreich aus dem Jahr 1909. Und auch die von den Nazis im Jahr 1934 aufgesetzte Straßenverkehrsordnung sollte laut ihrer Präambel allein der „Förderung des Kraftfahrzeugs“ dienen.
Straßenverkehrsgesetze stammen aus der Kaiserzeit
Solche Präambeln existieren heute natürlich nicht mehr und sämtliche Rechtsvorschriften wurden bemüht neutral überarbeitet und umformuliert. Das Umweltbundesamt kam in einer Studie trotzdem zu dem Schluss, dass das „gegenwärtige Straßenverkehrs- und Straßenrecht den motorisierten Individualverkehr gegenüber den nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern sowie dem ÖPNV inhaltlich und strukturell“ bevorzugt. Vereinfach gesagt: In der Praxis haben Autos eben immer noch Vorrang.
Ein weiteres Beispiel ist Tempo 30 in der Stadt. Die Hamburger Verkehrsbehörde würde gerne mehr Straßen mit dieser Geschwindigkeit ausweisen, das geht aktuell aber nur „bei einer besonderen Gefahrenlage“. Das ist der Fall, wenn vermehrt Unfälle passiert sind oder sich dort eine Kita oder Schule befindet.
Bundesregierung will Straßenverkehrsgesetz ändern
Die Bundesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag zwar angekündigt, die Verkehrsgesetze so anzupassen, dass künftig auch der Klima- und Umweltschutz, die Gesundheit und die städtebauliche Entwicklung in den Straßenverkehrsgesetzen berücksichtigt werden. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) zögerte allerdings bislang, diese Absicht wirklich aufzugreifen und vor allem umzusetzen. Aus seiner Behörde heißt es auf Nachfrage, man sei „offen für unterschiedliche Lösungsansätze und Innovationen“. Dazu sei bereits eine Arbeitsgruppe der Bundesländer ins Leben gerufen worden, die Ende November ihre Ergebnisse vorstellte. Zum Beispiel sollen Kommunen künftig leichter Busfahrspuren oder Zebrastreifen anordnen können.
„Diese kleinen Schritte sind gleichzeitig kein Ersatz für eine größere Reform, die vor allem die erleichterte Anordnung von Tempo 30 beinhalten muss“, sagt Verkehrsbehörden-Sprecher Dennis Heinert. Das Bundesverkehrsministerium müsse zeitnah einen Reformvorschlag vorlegen.
Wie sieht die Zukunft auf den Straßen von Ottensen aus?
Dieser Ansicht ist auch der Kieler SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Stein. Seine Fraktion will die Initiative ergreifen, um die 70 Jahre alten Gesetze grundlegend zu erneuern. „Die Menschen sollen endlich Städte vorfinden, in denen man gerne mit dem Fahrrad und zu Fuß unterwegs ist“, sagte er der MOPO. „Ich habe den Eindruck, dass das Verkehrsministerium noch nicht erkannt hat, dass bei dem Thema endlich mal Geschwindigkeit angesagt ist.“
Denn daran wird sich auch die mögliche Zukunft von Ottensen und anderen Hamburger Verkehrsprojekten entscheiden. Immerhin hat die rot-grüne Bürgerschaftsfraktion gerade erst die anderen Bezirke dazu ermutigt, Quartiere nach Ottenser Vorbild zu planen. In Ottensen hat man derweil erst einmal bunte, mobile Fahrradständer auf ehemaligen Parkplätzen aufgestellt.