Wie gruselig: Ausgrabung bei Hamburg: Geheimnisvolles Skelett gefunden
Foto:
Im Jahr 1842 verkehrt in Hamburg erstmals eine Eisenbahn. Nach dem Stadtbrand im Mai desselben Jahres wird eine Kanalisation gebaut. Wohnungen bekommen bald Wasserklosetts und die Straßen werden mit Gaslicht beleuchtet. Kurzum: In Hamburg bricht gerade die Moderne an, als sich im nur 50 Kilometer entfernten Harsefeld bei Buxtehude ein Spektakel ereignet, das an tiefstes Mittelalter erinnert.
Am 31. Oktober 1842 findet dort eine öffentliche Hinrichtung statt. Schulkinder singen fromme Lieder, während sich Tausende grölender und lachender Zuschauer versammeln, um neugierig zuzusehen, wie der Scharfrichter mit dem Schwert ausholt und kurz darauf das Blut nur so spritzt. Anna Marlena Princk, die „Rote Lena“, wird enthauptet.
Harsefeld: „Rote Lena“ wurde 1842 enthauptet
178 Jahre später, im Oktober 2020, sind auf einem Acker bei Harsefeld drei Männer damit beschäftigt, vorsichtig Erdschichten abzutragen: Es handelt es sich um Stades Kreisarchäologen Daniel Nösler und zwei Grabungstechniker. „Hier auf diesem Hügel befand sich der Richtplatz, auf dem Anna Marlena Princk starb“, sagt Nösler. „Gleich nach der Hinrichtung wurde sie – das war so üblich – an Ort und Stelle verscharrt.“
Nach vier Tagen Grabungsarbeit wird Nösler fündig: Ihm fällt auf, dass auf dem (natürlich längst verwitterten und kaum noch als solchen erkennbaren) Sarg in zwei Lagen große Steine platziert sind. Einer liegt direkt über dem abgeschlagenen Schädel, der nach der Hinrichtung kopfüber neben die Füße geworfen wurde. Nösler hat eine Erklärung dafür: „Die Furcht vor Wiedergängern!” Die Steine sollten verhindern, dass die „Rote Lena“ wieder aus dem Sarg steigt.
Die Geschichte der „Roten Lena” kennt in Buxtehude und Umgebung jeder. Sie wird von Generation zu Generation weitererzählt und sei es nur, um Kinder zu erschrecken. Daniel Nösler ist also nicht auf irgendwelche Knochen gestoßen – er hat eine Legende ausgegraben! „Da ja die Hinrichtung in den Schriftquellen gut beschrieben ist, hatte ich während der Ausgrabung unweigerlich Bilder dieses schrecklichen Schauspiels vor Augen.“
Anna Marlena Princk war eine „freche, lügenhafte Person“
Warum musste Anna Marlena Princk sterben? Beschrieben wird sie in den Akten und Urkunden als „freche, lügenhafte, verschmitzte und höchst liederliche Person“. Sie lebte mit ihrem Mann Hans Princk auf dem Gut Brillenburg in Buxtehude, er als Knecht, sie als Haushälterin. Mit dem Gutsherrn, einem Iren namens Michael Wilson, soll sie ein Verhältnis begonnen haben. Ihren Ehebruch hat sie nicht mal zu verheimlichen versucht. Ihren Mann zwang sie, in einem Verschlag in der Diele zu schlafen.
Eines Tages war Gutsbesitzer Wilson plötzlich tot. Die Princks übernahmen das Anwesen und stellten den 23-jährigen Tönjes Dammann als Knecht ein, der bald darauf der neue Gespiele der „Roten Lena“ wurde. Wollte sie freie Bahn für sich und ihren Lover? Jedenfalls fuhr Anna Marlena Princk extra bis nach Hamburg, um zwei Krüge sogenannter „Mäusebutter“ zu kaufen, ein mit Arsen versehenes Schmalz, das dazu diente, ungebetene Nager ins Jenseits zu befördern.
Sie schmierte die Brote ihres Manns mit „Mäusebutter“
Am Sonntag, 15. Juni 1839, schmierte Anna Marlena Princk dem Gatten ein Brot und brachte ihm Tee – wenig später war Hans Princk im Jenseits. Weil schnell Zweifel daran aufkamen, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, leitete Otto Wilhelm Rathje – als Vogt so etwas wie der Vertreter der Obrigkeit vor Ort – Ermittlungen ein. Zwei Sachverständige aus Buxtehude, der Arzt Dr. Brecht und der Apotheker Leddin, bestätigten schließlich den Verdacht: Sie stellten in Magen und Darm des Toten Spuren von Arsen fest.
Bald kam die Frage auf, ob die „Rote Lena“ möglicherweise nicht zum ersten Mal gemordet hat. Wie eigentlich ist der irische Gutsbesitzer ums Leben gekommen, fragte sich die Justiz. Doch die „Rote Lena“ bestritt alles. Versuche, den Mord am Ehemann allein dem Liebhaber in die Schuhe zu schieben, fruchteten nicht: Für das Gericht stand ihre Schuld zweifelsfrei fest.
Drei Jahre Kerkerhaft: Mäuse laufen über ihre Füße
Bis zur Vollstreckung des Urteils wurde Anna Marlena Princk im Keller des Harsefelder Amtshauses eingesperrt: Drei Jahre musste sie in einer zwölf Quadratmeter kleinen Zelle dahinvegetieren mit einem geziegelten Podest als Bett. Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass sie sich über die Feuchtigkeit, über den Schimmel, der von der Decke tropfte und über Mäuse beklagte, „die über meine Füße kriechen“. Sie bat darum, eine Katze halten zu dürfen – ob diesem Wunsch entsprochen wurde, ist nicht bekannt.
Am 31. Oktober 1842 wurde das Urteil vollstreckt. An der Straße, die von Harsefeld nach Stade führt, wurde links auf dem sogenannten Bostelsberg ein 1,2 Meter hoher Hügel von etwa zehn Metern Durchmesser aufgeschüttet. Darauf platzierte Scharfrichter Christian Schwarz den Richtstuhl und wartete auf die Delinquentin.
Die wurde am Morgen gegen 9 Uhr aus der Zelle geholt. Dann musste sie sich das Todesurteil erneut anhören. Ein Seelsorger, Pastor Krone aus Neukloster, legte ihr nahe, ihr Gewissen zu beruhigen und die Tat nun zu gestehen. Sie aber schlug nur wild auf den Tisch und brüllte den Amtmann an: „Wer mir den Leib nimmt, kann auch für meine Seele sorgen!“
Anschließend fuhr eine vierspännige Kutsche mit der Todgeweihten Richtung Richtplatz. Der Andrang der Schaulustigen war so groß, dass ein Regiment mit zwei Offizieren und 24 Dragonern und zehn Landgendarmen für Ordnung sorgen musste. Es müssen Tausende von Zuschauern gewesen sein.
Die „Rote Lena“ wird mit einem Schwert enthauptet
Während Anna Marlena Princk mit Lederriemen auf dem Richtstuhl festgebunden wurde, sangen Schüler christliche Lieder. Noch ehe sie zu Ende gesungen hatten, holte der Scharfrichter mit seinem Schwert aus. Er brauchte zwei Schläge, ehe der Kopf vollständig vom Rumpf getrennt war. Die Helfer des Scharfrichters warfen die sterblichen Überreste der „Roten Lena“ in einen Holzsarg, der bereits in der Erde vergraben war.
1860 wurde das öffentliche Richten mit dem Schwert zugunsten des Fallbeils abgeschafft. Todesurteile wurden von da an hinter Gefängnismauern vollstreckt, nicht mehr öffentlich.
Zwar geriet die Geschichte der „Roten Lena“ nie in Vergessenheit, wohl aber das Wissen, wo die Hinrichtung stattgefunden hat. Erst 2008 fand ein Forscher in alten Harsefelder Vermessungsunterlagen eine Koordinate mit dem Hinweis „Richtplatz“. Ab da war zumindest annähernd bekannt, wo er sich befunden hat. Den genauen Standort ermittelte schließlich Kreisarchäologe Nösler jüngst mit modernster Technik – und startete seine Grabung.
Aktuell wird das Skelett von einer Anthropologin auf Spuren der Hinrichtung und auf Krankheiten untersucht. Danach, so erzählt Archäologe Nösler, sei geplant, es in Harsefeld ordentlich zu bestatten. Damit die „Rote Lena“ endlich ihre Ruhe findet.
Mehr über die „Rote Lena“ gibt es Sonntag, 22.11.2020, um 23.45 Uhr bei ZDF-History. Die Folge heißt: „Strafe muss sein. Wofür wir wie büßen müssen“.