„Lost Place“ im Hafen: Hier verfällt eine Werft-Legende
Sie war Hamburgs ganzer Stolz: die Sietas Werft in Neuenfelde. Gegründet 1635 lieferte sie jahrhundertelang die modernsten Schiffe der jeweiligen Epoche. Ewer, Schoner, Kutter, Fähren, Motorschiffe, Frachter. Dann war plötzlich Schluss. Im Juli 2021 ging Hamburgs älteste Traditionswerft insolvent. Wo einst das erste Containerschiff der Welt gebaut wurde, sehen nur noch ein paar Arbeiter nach dem Rechten – und haben noch einen Traum.
Stille herrscht in der alten Schlosserhalle aus den 1940er Jahren, in der bis zum Sommer vergangenen Jahres stets Hochbetrieb herrschte. Nichts ist zu hören, außer einem unregelmäßiges Quietschen der Türen, an denen der Wind rüttelt. Die Werkbänke sind längst abgeholt worden. Am Boden liegen noch ein paar rostige Schrauben. Etwas verloren in der Ecke steht eine schrumpelige Kiste, aus der Weihnachtsbaumkugeln und Lametta quellen.
Vom Schiffbauingenieur zum Hausmeister: Sietas-Mitarbeiter erlebt das Ende der Werft
Martin Stolzenberger blickt sich um in der Halle, in der er als Schiffbauingenieur einst zuständig war für die Fertigung. „Jetzt bin ich hier nur noch der Hausmeister“, sagt der 60-Jährige bekümmert. Die Zeiten, in denen hier permanent geschraubt, gebohrt und Funken versprüht wurden, sind endgültig vorbei. Von den einst 3000 Werftarbeitern sind nur 20 geblieben, die sich nun mit Stolzenberger um die Reste-Abwicklung kümmern.
Einer sitzt an der Pforte, andere sind für die Bewachung und Instandhaltung zuständig. Wieder andere kümmern sich um Großteile, die hier für andere Firmen zwischengelagert werden. Das Geld fließt in die Insolvenzmasse des letzten Eigners, der russischen Pella Shipyards, welche die 2012 schon einmal pleite gegangene Sietas Werft 2014 übernommen hatte und am Ende doch nicht retten konnte.
Sietas-Pleite hat viele Gründe
Warum es so gekommen ist, lässt sich nicht so einfach sagen. Da ist die Werftkrise, die Konkurrenz in Asien. Da ist der Schlick im Hafenbecken, aber auch hausinterne Probleme wie Missmanagement und fachliche Inkompetenz. Die letzte Direktorin Natallia Dean, eine studierte Sprachwissenschaftlerin, verließ die Werft in Richtung eines Gesundheitskonzerns.
Dass es vorbei ist, können die letzten Mitarbeiter immer noch nicht richtig glauben. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Martin Stolzenberger. Ein bisschen träumen er und seine Kollegen immer noch davon, dass sich jemand finden könnte, der das Gelände kauft und wiederbelebt. „Das Knowhow ist ja noch da“, bekräftigt Stolzenberger.
Werftarbeiter hoffen, dass sich doch noch ein Käufer findet
Gleich neben der Schlosserhalle liegen zum Beispiel noch die riesigen Einzelteile der Fähre, die einmal die Passagiere der Reederei Norden Frisia vom Festland nach Norderney bringen sollte und wieder zurück. „Nur noch ein halbes Jahr Arbeit, dann wäre sie fertig gewesen“, sagt der degradierte Ingenieur mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. Dann leuchten seine Augen plötzlich: „Wir könnten sie immer noch zusammenbauen!“
Dass die Kollegen nicht mehr da sind, sei kein Problem. Man könne ja fremde Kapazitäten einkaufen. Sogar einen Interessenten gibt es. Ein Fährbetreiber aus Costa Rica überlegt noch.
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Eine Sirene ertönt. Die Lautsprecher scheppern. 9 Uhr. „Frühstückszeit“, lacht Stolzenberger. Früher strömten die Arbeiter bei diesem Signal in die Kantine. Heute stehen dort noch genau zwei Stühle auf dem 60er Jahre Terrazzo-Boden. Die Küche ist verwaist. Statt Linseneintopf gibt es für Stolzenberger nur eine von zu Hause mitgebrachte Stulle. Um zumindest ein bisschen Gemeinschaft herzustellen, treffen er und die verbliebenen Kollegen sich freitags zum Grillen.
Er prägte lange das Bild der Werft: der Jucho-Portalkran
„Freitag ist Pferdewursttag!“, sagt Thorsten Pass und reibt sich voller Vorfreude die Hände. Der „Herr der Kräne“, wie Stolzenberger den ehemaligen Transport-Chef liebevoll nennt, ist auf dem Weg zu dem großen Jucho-Portalkran, der das Bild der Werft seit 1990 prägt. Das Schwergewicht kann 450 Tonnen heben – wie kaum ein anderer Kran im Hamburger Hafen.
In einem engen, wenig vertrauenswürdigen Fahrstuhl geht es ratternd nach oben in schwindelerregende Höhen. Von der Querachse des blauen Krans aus hat man einen gigantischen Ausblick bis weit ins Alte Land oder über Airbus hinweg bis zu den Landungsbrücken. Aber auch das zwölf Hektar große Werftgelände lässt sich von hier aus am besten betrachten.
Die letzten Werftarbeiter – sie halten feste zusammen
Pass zeigt auf die Kaianlagen. „Vor 40 Jahren herrschte hier noch Hochkonjunktur“, erinnert sich der 61-Jährige, der 1982 direkt nach der Ausbildung bei Sietas anfing. „Damals lagen dort drei Schiffe hintereinander an der Kaikante. Zwei weitere waren im Dock.“ Jetzt sind nur die zwei Doppelböden des Eisbrechers zu sehen, der einmal die Seewege um Wladiwostok freihalten sollte und das letzte, nie vollendete Prestige-Projekt von Pella Sietas war. Auch sie stehen zum Verkauf.
Der Eisbrecher, die Fähre, die Kräne, die Werkbänke – alles verschwindet. Für die verbliebenen Mitarbeiter ist das schwer zu ertragen. „Am meisten fehlen mir die Kollegen, mit denen ich so viele Jahre zusammengearbeitet habe“, sagt Pass traurig. Martin Stolzenberger knufft ihn in die Seite. So wie Männer im Hafen das so machen, wenn Gefühle hochkommen: „Ich hab dich lieb, Thorsten“, sagt er wie zum Trost. „Ich dich auch!“, sagt Thorsten Pass.