Waldhaus
  • Eine Postkarte zeigt die Kinderheilanstalt „Waldhaus“ Bad Salzdetfurth.
  • Foto: dpa

Auf Kur gequält: Das traurige Schicksal der „Verschickungskinder“

Es ist ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte. Millionen von Kindern wurden zur Erholung ohne ihre Eltern in Kurorte geschickte – viele kamen traumatisiert zurück. Einige „Verschickungskinder“ starben sogar. Daran wird nun in Niedersachsen erinnert.

Es sollte ein Erholungsurlaub werden, doch es wurde eine Zeit voller körperlicher und seelischer Qualen, die ihr weiteres Leben prägte: Sabine Schwemm wurde im November 1968 als Vierjährige ohne ihre Eltern zur Kinderkur ins Waldhaus im niedersächsischen Bad Salzdetfurth geschickt. Was sie dort vor 55 Jahren erleiden musste, schildert sie in einem Vortrag beim Jahreskongress der Initiative Verschickungskinder.

„Verschickungskinder“: Betroffene leidet an Panikattacken und Angststörungen

Wer aus Versehen ins Bett machte, musste stundenlang zur Strafe im Nachthemd im kalten Waschraum mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen. Kontakt zu den Eltern war für vier Wochen verboten. Als sie heimlich die Personaltoilette im Keller benutzte, wurde sie in einem dunklen Raum übers Knie gelegt und verdroschen. Nach der Rückkehr erzählte Sabine Schwemm ihren Eltern nur von Schikanen durch andere Kinder, nicht von den Strafen der Pflegerinnen, die „Tanten“ genannt wurden.

Sabine Schwemm (l.) und Anja Röhl (r.) wurden als Kinder in Einrichtungen geschickt, in denen es zu schweren Misshandlungen gekommen sein soll. dpa | Moritz Frankenberg
Sabine Schwemm (l.), die als Kind in die Kinderheilanstalt „Waldhaus“ Bad Salzdetfurth geschickt wurde, und Anja Röhl (r.), Initiatorin vom Bundeskongress „Aufarbeitung Kinderverschickungen“, blättern am Rande vom Bundeskongress «Aufarbeitung Kinderverschickungen» in dem Buch „Verschickungskinder in Bad Salzdetfurth“.
Sabine Schwemm (l.) und Anja Röhl (r.) wurden als Kinder in Einrichtungen geschickt, in denen es zu schweren Misshandlungen gekommen sein soll.

„Ich hatte immer Angst. Die Angst habe ich mitgenommen aus dem Waldhaus“, sagt Sabine Schwemm heute. Immer wieder kämpfte sie mit Panikattacken und Angststörungen. Erst vor vier Jahren sei sie zufällig auf die Internetseite der Initiative Verschickungskinder gestoßen, berichtet die 59-Jährige. Sie habe fast der Schlag getroffen, als sie die vielen Geschichten von Verschickungskindern las, die ihrer ähnelten.

Rund 10.000 Berichte hat die Betroffenen-Initiative inzwischen gesammelt. Redeverbot, Schlafzwang, Schikanen beim Essen: Was nach 1945 über Jahrzehnte in deutschen Kinderkurheimen an der Nordsee oder in den Bergen passierte, ist noch nicht umfassend aufgearbeitet worden. Millionen von Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren wurden zur Erholung ohne ihre Eltern in Kurorte geschickte – viele kamen traumatisiert zurück.

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Die Bundesregierung müsse endlich Verantwortung übernehmen und die Aufarbeitung etwa mit der Schaffung eines Dokumentationszentrums unterstützen, fordert die Gründerin der Initiative, Anja Röhl. Dazu hat sie auch eine Internet-Petition gestartet. Nur zwei Bundesländer – Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen – hätten bisher Projekte zur Aufarbeitung der Kinderverschickung gefördert, kritisiert Röhl. Daneben gibt es einzelne Träger von Heimen, die Missstände von Historikern untersuchen ließen.

Bad Salzdetfurth: 1969 sterben drei „Verschickungskinder“

Im Waldhaus in Bad Salzdetfurth wurde 1969 innerhalb weniger Monate ein Dreijähriger von drei sechsjährigen Jungen totgeprügelt, ein Siebenjähriger erstickte an Erbrochenem und ein Mädchen starb infolge einer Infektion. Bei allen Todesfällen könne man zumindest ansatzweise Fahrlässigkeit unterstellen, heißt es in einer Studie, die die Diakonie dazu in Auftrag gab. Sie ist die Nachfolgeorganisation des damaligen Trägers der Kinderheilanstalt.

Über erlittenes Leid müsse gesprochen werden, so dass auch andere Betroffene erfahren: „Sie sind nicht allein und es wird ihnen geglaubt“, sagt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. Ein besonderes Anliegen sei, die Erinnerung an das Leid der Kinder und an die drei Todesfälle wachzuhalten.

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Im nächsten Jahr solle daher zum Gedenken eine Stele in unmittelbarer Nähe zum Museum am Kurpark errichtet werden. Lenke: „Sie wird insbesondere an Stefan, Kirsten und André erinnern, die 1969 in der Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth während ihrer Kinderkur zu Tode gekommen sind.“

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