„Unordnung“ soll Wälder und Klima retten
Seit rund 30 Jahren wachsen die Bäume im Lübecker Stadtwald wie sie wollen. Förster greifen nur selten ein in das Ökosystem. Eine Greenpeace-Waldexpertin hält das Konzept für das einzig richtige.
Das Lauerholz in Lübeck ist auf den ersten Blick ein ganz normaler Wald. Auf mehr als 900 Hektar stehen hauptsächlich Laubbaumarten wie Buchen, Eichen, Eschen und Ahorn. Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf: Dieser Wald ist anders. Zwischen dicken alten Exemplaren liegen umgestürzte Bäume auf dem Boden, kleine Wasserläufe durchziehen den Wald. „Seit rund 30 Jahren arbeiten wir im gesamten Lübecker Stadtwald nach dem Prinzip der naturnahen Waldwirtschaft“, sagt Knut Sturm, der Leiter des Bereiches Stadtwald der Hansestadt Lübeck. „Das bedeutet, dass wir die natürlichen Prozesse im Ökosystem Wald so selten wie möglich stören“, sagt er.
Stadtwald in Lübeck seit mehreren Hundert Jahren in Besitz der Handestadt
Das Lauerholz ist das größte der insgesamt vier Forstreviere im insgesamt etwa 4600 Hektar großen Lübecker Stadtwald. Viele dieser Reviere, die zum Teil auch in den angrenzenden Kreisen Herzogtum Lauenburg und Nordwestmecklenburg liegen, befinden sich schon seit mehreren hundert Jahren im Besitz der Hansestadt Lübeck. Dazu gehört auch der sogenannte Schattiner Zuschlag. Dieser rund 46 Hektar große Wald lag bis 1990 im ehemaligen DDR-Grenzstreifen.
„Den letzten größeren Eingriff hat es dort vor mehr als 70 Jahren gegeben. Dort können wir gut beobachten, wie sich der Wald ohne Eingriffe des Menschen entwickelt“, sagt Sturm.
„Wir warten ab, welche Baumarten von allein nachwachsen“
Diese natürliche Waldentwicklung ist das Vorbild, an dem sich das Lübecker Waldkonzept orientiert. „Wir verzichten auf die sogenannte Durchforstung der Wälder, auf Kahlschlag und Wiederaufforstung. Stattdessen setzen wir auf Naturverjüngung, das heißt, wir warten ab, welche Baumarten von allein nachwachsen, wenn alte Bäume absterben oder umstürzen“, sagt er. Umgestürzte Bäume bleiben liegen und werden langsam von Insekten und Pilzen zersetzt.
Auf Laien wirke der naturnah bewirtschaftete Wald mit dem herumliegenden Totholz und den unbegradigten Bächen oft unordentlich, sagt der frühere Leiter des Lübecker Forstamtes, Lutz Fähser. „Doch das ist Natur, auch wenn Förster in der Ausbildung oft noch lernen, sie seien besser als die Natur“, sagt er. Der inzwischen pensionierte Fähser hat seit 1994 das Lübecker Waldkonzept mit dem Rückhalt des Stadtparlaments in der Hansestadt etabliert.
„Als Brennholz ist unser Holz viel zu schade“
„Die naturnahe Bewirtschaftung unserer Wälder bedeutet nicht, dass wir keine Bäume fällen“, stellt Sturm klar. „Aber wir schlagen nur so viel, wie von allein nachwächst, und wir entnehmen nur einzelne starke Bäume, die zu langlebigen Produkten verarbeitet werden. Als Brennholz ist unser Holz viel zu schade.“ Aktuell werden nach Sturms Angaben im Lübecker Stadtwald etwa 30 Prozent des Holzzuwachses genutzt, bundesweit seien es dagegen 100 Prozent.
„Dieses Konzept hat sich gerade in der aktuelle Klimakrise als tragfähig erwiesen“, sagt Sandra Hieke, Waldexpertin bei Greenpeace. „Es setzt auf artenreiche, altersgemischte Laubmischwälder, was dem natürlichen Waldbestand auf den meisten Standorten in Deutschland entspricht“, sagt Hieke. Inzwischen hätten einige große Städte in Deutschland dieses Konzept übernommen, darunter Berlin, München, Hannover und Göttingen. Auch international sei das Interesse sehr groß, bestätigt Sturm.
Waldexpertin hält das Lübecker Konzept „für das einzig richtige“
Die Schleswig-Holsteinischen Landesforsten haben das Lübecker Konzept dagegen nicht übernommen. „Doch in den Vorgaben des Schleswig-Holsteinischen Umweltministeriums, nach denen wir unseren Wald bewirtschaften, stecken viele Elemente, die auch in anderen naturnah wirtschaftenden Betrieben wie in Lübeck zu finden sind“, sagt der Sprecher der Landesforsten, Ionut Huma.
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Auch auf den knapp 25.000 Hektar großen Nationalpark Harz lässt sich das Lübecker Waldkonzept nach Angaben der Nationalparkverwaltung nicht übertragen. „Es ist und bleibt ein Waldbewirtschaftungskonzept und verfolgt damit eine andere Zielsetzung, als wir als Nationalpark“, sagt Sabine Bauling von der Nationalparkverwaltung.
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Waldexpertin Hieke hält dagegen das Lübecker Konzept angesichts der Klimaveränderungen für das einzig richtige. „Die Erfahrung und wissenschaftliche Auswertungen zeigen, dass intensiv bewirtschaftete Forste in der Regel stärker unter den Auswirkungen der Klimakrise leiden als stabile naturnahe Wälder“, sagt sie. (dpa)