Statt Gas und Öl: Kleinstadt im Norden nutzt Wärme aus der Tiefe
Russlands Krieg gegen die Ukraine befeuert die Diskussion, wie sich Deutschland von Importen fossiler Brennstoffe befreien kann. Dabei spielt die Erdwärme bisher eine untergeordnete Rolle. Zu Unrecht, meinen Forscher und Praktiker – zum Beispiel in Neustadt-Glewe.
Unscheinbarer kann ein Heizwerk kaum aussehen: Der zweistöckige Gebäudewürfel am Stadtrand von Neustadt-Glewe wird von einem halbrunden Glasvorbau aufgelockert. Zwei Autos stehen auf dem Parkplatz. Kein Monteur ist zu sehen, Rauch steigt auch nicht auf. Und doch werden von hier aus 60 Prozent der Haushalte der rund 6500 Einwohner zählenden Kleinstadt im Landkreis Ludwigslust-Parchim mit Wärme versorgt, außerdem ein Gewerbegebiet und eine Algenfarm, wie der Geschäftsführer der Erdwärme Neustadt-Glewe GmbH, Torsten Hinrichs, sagt.
Neustadt-Glewe: 60 Prozent der Haushalte nutzen Erdwärme
Die Wärme kommt aus knapp 2,5 Kilometern Tiefe. Seit 1995 wird das sehr salzhaltige, knapp 100 Grad heiße Thermalwasser zum Heizwerk herauf gepumpt. In Wärmetauschern wird dort der Sole Wärme entzogen und damit das Heizwasser erhitzt. Über ein Fernwärmenetz gelangt es in die angeschlossenen Haushalte und Betriebe.
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Eine Digitaltafel an der Fassade des Erdwärmeheizwerks zählt: Rund 15.000 Millionen Kubikmeter Thermalsole wurden demnach bislang in Neustadt-Glewe gefördert, mehr als 400 Gigawattstunden Wärme geliefert und damit gut 117.000 Tonnen Kohlendioxid eingespart. Neustadt-Glewes Bürgermeisterin Doreen Radelow (SPD) ist darüber sehr glücklich. „Sicher ist es im Aufbau nicht die billigste Variante, dennoch ist es für mich erstaunlich, dass das Thema Erdwärme nicht verbreiteter ist“, sagt sie.
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Die geologischen Bedingungen zur Nutzung der Geothermie sind in der Norddeutschen Tiefebene und damit in Mecklenburg-Vorpommern günstig, heißt es aus dem Schweriner Wirtschaftsministerium. „Sie lassen fast flächendeckend in einer Tiefe von 1000 bis 2500 Meter die energetische Nutzung thermaler Wässer zu.“
Allerdings sind die anfänglichen Investitionskosten für die sogenannte Tiefe Geothermie sehr hoch, während der laufende Betrieb dann als günstig gilt – das heiße Wasser kostet ja nichts. „In den vergangenen 30 Jahren hatte fast jede Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern einen Erlaubnisantrag zur Erkundung von Erdwärme im tieferen Untergrund beim Bergamt gestellt“, erzählt der Sprecher des Wirtschaftsministeriums, Gunnar Bauer. Die Erlaubnisse seien erteilt worden. Doch genutzt wird der Energie-Schatz bis heute nur vereinzelt.
Tiefe Geothermie zeigt langfristig Vorteile
Als Grund gelten die hohen Anfangskosten. Zunächst müssen Erkundungsbohrungen gesetzt werden, um herauszufinden, ob am gewünschten Standort das heiße Wasser in der Tiefe gut erreichbar ist, sagt Hinrichs. Dann müssen zwei Bohrungen angelegt werden – eine, in der das Wasser nach oben befördert wird und etwa 1,5 Kilometer entfernt eine zweite, in der das genutzte Wasser wieder in die Tiefe fließt.
Vom Projektstart bis zur Inbetriebnahme dauere es mindestens drei Jahre, so Hinrichs. Für die aktuelle Debatte, wie Deutschland sich schnell von russischen Erdgas-Importen lösen kann, sei die Tiefe Geothermie deshalb nicht geeignet. Wohl aber für Wärmeversorger, die langfristig auf erneuerbare Quellen umstellen wollen. Die Preise für die Verbraucher in Neustadt-Glewe seien marktgerecht und stabil.
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In Mecklenburg-Vorpommern wird Tiefe Geothermie nach Angaben des Wirtschaftsministeriums bislang in Neubrandenburg, Waren an der Müritz und Neustadt-Glewe genutzt. Bei den Stadtwerken Schwerin soll Ende 2022 eine Anlage den Betrieb aufnehmen. Das Projekt sei über die Klimaschutzförderrichtlinie der EU mit 9,2 Millionen Euro gefördert worden. Weitere Vorhaben gebe es zum Beispiel in Karlshagen auf Usedom sowie im Raum Friedland und Anklam.
Nach Angaben des Umweltbundesamtes betrug der Anteil der Tiefen Geothermie am gesamten Wärme-Endenergieverbrauch in Deutschland im Jahr 2020 nur rund 0,1 Prozent. Etwas verbreiterter sind demnach Wärmepumpen, die oberflächennahe Geothermie nutzen. Damit ergebe sich ein Anteil von 0,8 Prozent.
Forscher sehen viel Potenzial in Wärme aus der Tiefe
Forscher von Helmholtz-Zentren und Fraunhofer-Instituten sprechen der Tiefen Geothermie ein deutlich größeres Potenzial zu. Rund ein Viertel des jährlichen deutschen Wärmebedarfes könnte aus ihrer Sicht damit gedeckt werden. Sie sind sicher: „Ohne Geothermie wird eine Dekarbonisierung des Wärmesektors in Deutschland nicht möglich sein.“
Um das Ziel zu erreichen, fordern die Forscher in einem im Februar veröffentlichten Strategiepapier klare Ausbauziele für Erdwärme, die großflächige geologische Erkundung, Investitionen in Schlüsseltechnologien sowie einen Fachkräfteaufbau. Stadtwerke müssten bei der Erschließung unterstützt werden.