In diesem Abenteuer-Dorf helfen alle mit
Etwa 300 Menschen wollen eines Tages in diesem Wohnprojekt zusammenleben – eigentlich ist es eher ein kleines Dorf, das da in Hitzacker (Landkreis Lüchow-Dannenberg) entsteht. Und die Neuankömmling sind willkommen.
Dick eingemummelt schraubt Kathi Schmitz Teile der Holzverkleidung im ersten Stock an die Wand eines Rohbaus. Geschickt bewegt sich die 28-Jährige auf dem Baugerüst. „Ich arbeite supergern auf der Baustelle“, erzählt die Lüneburgerin, die als eine der ersten ins neue Mini-Dorf in Hitzacker im dünn besiedelten Wendland eingezogen ist. Die Voraussetzung des Genossenschaftsprojekts: Jeder muss mitarbeiten.
„Natürlich machen einige weniger als andere, sie werden getragen von der Gemeinschaft“, sagt Schmitz. Sie bewohnt ein 30-Quadratmeter-Apartment und konnte es selbst mitgestalten. Sechs Euro Miete kostet der Quadratmeter, dazu kommen die Genossenschaftsanteile. Wegen der großen Eigenleistung kann der Mietpreis niedrig gehalten werden. „Ich finde das hier total super, man kann sich zurückziehen und seinen Film fahren, aber auch irgendwo mitmachen. Das ist gut ausbalanciert, da ist viel Freiheit“, findet die Waldorf-Lehrerin, die ein eigenes Pferd mitgebracht hat. „Ich habe total Lust, hier Wurzeln zu schlagen.“
Dorf in Hitzacker für Junge, Alte und Geflüchtete
Sie unterrichtet ganz in der Nähe, auch einige Kinder des neuen Projekts gehen auf die fußläufige Waldorf-Schule. Eine Schaukel oder ein Trampolin sucht man vergeblich auf dem Gelände, auch gibt es keine klassischen Vorgärten – alles Grüne läuft ineinander über. Die Kinder nutzen das Dorf in der Entstehung als Abenteuerspielplatz. „Ganz am Anfang hat eine Berliner Familie gefragt, ob für die Kinder etwas eingezäunt werden müsse“, erzählt Rita Lassen, „aber diese Sorgen haben sich schnell erledigt.“ Die Kleinen wüssten, dass sie sich von Maschinen fernhalten müssten.
Besonders schön sei es zu sehen, wie sich die Kinder zweier Flüchtlingsfamilien integriere. „Sie fühlen sich hier wohl. Die Kinder ziehen sich mit“, sagt die 70 Jahre alte ehemalige Unternehmensberaterin. „Auch wenn sie traumatisiert sind, es geht ihnen hier richtig gut. Und es löst sich was.“ Die Mieter aus Syrien, Palästina, Mali und Afghanistan bringen sich ebenfalls ein – wer weniger handwerklich begabt ist, steuert etwas zur Versorgung der vielen helfenden Hände bei.
Projekt: ein Dorf als Genossenschaft
„Die Frauen kochen arabisches Essen, das ist köstlich“, erzählt Pastorin Käthe Stäcker, die mit ihrer ein Jahr älteren Frau Lassen zusammenlebt. Sie bewohnen eine 118-Quadratmeter-Wohnung über zwei Stockwerke und gehörten längere Zeit dem Vorstand der Genossenschaft an. „Geld ist für uns kein Kriterium, man kann sich nicht einkaufen“, betont Lassen: „Wir suchen Leute mit Pioniergeist, gern auch Architekten, Juristen oder Gartengestalter.“
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So haben sich bereits eine Arztpraxis und eine Computerfirma in der Siedlung niedergelassen. Es gebe soziale Unterschiede, aber auch ein gutes soziales Netz, findet Heike Pallokat, die mit ihrem 16-jährigen Sohn auf 60 Quadratmetern wohnt. Sie konnte sich die Anteile nicht leisten – dafür sprang jemand anderes ein.
Die 58-Jährige sieht die Geflüchteten als Bereicherung: „Sie sollen sich hier sicher fühlen.“ Es sei eine große Verantwortung, die Neuankömmlinge zu unterstützen. Zumal einige noch kein Deutsch sprechen würden.
Gemischtes Dorf soll das Zusammenleben bereichern
Die gemischte Zusammensetzung – Jung und Alt, Zugezogene und Einheimische – soll das Zusammenleben bereichern. „Es sind nicht alles Freunde, man muss auch nicht alle mögen, aber uns verbindet eine Vision“, meint Lassen bei einer Tasse Ingwertee in ihrer gemütlichen Holzküche mit Blick auf das Dorfleben. Heizkörper fehlen, dafür werden einzelne Lehmwände aus der benachbarten Biogasanlage einer Bauerngenossenschaft beheizt. Wie viele ihrer neuen Nachbarn hat die gebürtige Dänin zuletzt jahrelang in Hamburg gelebt.
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Ständig laufen Arbeitende vorbei, schleppen Material in die Rohbauten, für die nur ganz wenig Zement für die Fundamente auf den sandigen Boden gegossen wird. Ansonsten werden heimische Hölzer verarbeitet, der Boden wird mit Glasschaumschotter und Isoflock, das sind Zelluloseflocken, gedämmt. 2018 war Baubeginn, da waren die Preise für das Material noch nicht so hoch wie derzeit. Insgesamt belaufen sich die Kosten auf sechs Millionen Euro.
Dorf in Hitzacker (Niedersachsen): Das ist noch geplant
Aus ihrem Wohnzimmerfenster schauen Stäcker und Lassen auf eine große Weide, die sie gern eines Tages zur Erweiterung des Großprojektes dazukaufen würden. Als Nächstes stehe aber erstmal die Fertigstellung des Gemeinschaftshauses an, in dem neben medizinischen Leistungen auch Platz für Geselligkeit sein soll und Bürger aus dem Ort willkommen sind. Auch eine Pilzfarm ist geplant.
Nach anfänglicher Skepsis gibt es inzwischen viel Wohlwollen in Hitzacker, die Neuankömmlinge scheinen willkommen zu sein. Ein Unternehmen im angrenzenden Industriegebiet ist zwar weggezogen. Dafür haben viele regionale Handwerksfirmen mitgearbeitet. Der NDR strahlte dazu den 88-minütigen Dokumentarfilm „Wir alle. Das Dorf“ aus. Die beiden Regisseurinnen begleiteten das Sozialexperiment über vier Jahre, berichten von Widrigkeiten und bürokratischen Hürden.