Immer mehr Einwohner: Warum Hamburgs Nachbarstadt nun unter Druck gerät
Norderstedt verändert sich schnell. Die Stadt wächst kontinuierlich. Vielleicht sogar zur Großstadt. Das bringt Herausforderungen mit sich.
Die viertgrößte Stadt Schleswig-Holsteins hat kein echtes Zentrum und wenig Geschichte. Norderstedt ist unvollendet, voller Widersprüche und hat im Laufe der Jahre doch Zehntausende Menschen angezogen. Mit inzwischen rund 85.000 Einwohnern und noch vielen geplanten Bauprojekten geht die Entwicklung in großen Schritten weiter.
„Das Wachsen ist schon sportlich bei der Infrastruktur, die einfach nicht in der Geschwindigkeit mitgewachsen ist“, sagt Oberbürgermeisterin Katrin Schmieder (Grüne). Die Herausforderungen seien enorm. Es müssen Kitas und Schulen gebaut werden, Straßen und öffentlicher Personennahverkehr brauchten Auffrischung und Erweiterung.
Der Wohnungsdruck ist hoch
Bauten aus den Anfangsjahren wie Rathaus und Theater, Büchereien und Schulzentren mit Sporthallen sind in die Jahre gekommen und müssten dringend saniert oder ersetzt werden. Die Stadt baut erstmals eine Berufsfeuerwehr auf und an vielen Stellen wird Personal gesucht. Das alles bei einer angespannten Haushaltslage.

Aktuell sei die Wohnungsbautätigkeit wegen der hohen Kosten überall gedämpft, sagt Schmieder. Dabei sei der Wohnungsdruck hoch. Derzeit lebten rund 1800 Menschen in temporären Unterkünften, die da nicht mehr leben müssten, wenn es Anschlusswohnraum gäbe. Weitere Gemeinschaftsunterkünfte sollen entstehen.
Hilft da nur bauen, bauen, bauen?
Mehrere große Baugebiete sind in Planung: Sie haben klingende Namen wie Grüne Heyde, Sieben Eichen oder Frederikspark, andere liegen am Kösliner und Harkshörner Weg. Im gesamten Stadtgebiet läuft Verdichtung. Das summiert sich auf einige Tausend Wohneinheiten in den kommenden Jahren.
Im Neubau werden überwiegend Mehrfamilienhäuser mit maximal vier Etagen plus Staffelgeschoss geplant. Groß sei der Bedarf an kleineren, bezahlbaren und altengerechten Wohnungen.
Millionenprojekte in Norderstedt
Die Verwaltungschefin nennt ein konkretes Beispiel, was Sanierungsbedarf und Wachstum gleichzeitig bedeuten: Im Norden der Stadt werden bald auf einer landwirtschaftlichen Fläche mehrere Hundert neue Wohnungen gebaut. Die in die Jahre gekommene zweizügige Grundschule Harkshörn soll dann fünfzügig neu entstehen, auch eine Dreifeldsporthalle und ein Schulschwimmbecken sind vorgesehen.
Ein Projekt von zig Millionen Euro. Eines von vielen dieser Größenordnung. Allein der Neubau des Schulzentrums Süd in Glashütte soll 150 Millionen Euro kosten. Die Fraktionen haben die nötigsten Investitionen in der ganzen Stadt von 1 bis 24 priorisiert. Das Millionenprojekt Rathaussanierung steht aktuell auf Platz 23, sagt Schmieder und schaut auf ein Gerüst vor ihrem Fenster. Das Dach ist undicht.
Generationswechsel in alten Siedlungen trägt zum Wachstum bei
Der Einwohnerzuwachs hängt nach Angaben der Verwaltungschefin aber nicht nur am Bau neuer Wohnungen. Es gebe gerade einen Generationswechsel in vielen alten Quartieren. Wo über Jahre ältere Menschen alleine in Einfamilienhäusern gewohnt haben, ziehen zunehmend wieder junge Familien ein, anstelle von alten Siedlungshäusern entstehen Doppel- und Reihenhäuser.

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Ein Treiber des Wachstums der Stadt ist ihre Lage unmittelbar nördlich der Hamburger Stadtgrenze mit Verbindung zum Flughafen und die daraus entstehende wirtschaftliche Stärke. Neben Hunderten kleinen und mittleren Betrieben haben große Unternehmen Zentralen oder Standorte in der Stadt, darunter Tesa, Casio, Schülke und Jungheinrich. Die Stadtwerke haben als Pionier frühzeitig ein Glasfasernetz über die Stadtgrenzen hinaus gebaut.
Viel Autoverkehr trotz ÖPNV-Anbindung an Hamburg
Viele Bewohner und die starke Wirtschaft bedeuten auch viel Verkehr. Um den Autoverkehr in Grenzen zu halten, setzen Kommunalpolitik und Verwaltung auf den ÖPNV. Die Hamburger U-Bahn-Linie 1, die heute in Norderstedt-Mitte endet, soll um einige Kilometer nach Norden bis zur Haltestelle Quickborner Straße verlängert werden. „Wir sind mit Hamburg im engen Kontakt“, sagt Schmieder. Mit einer schnellen Realisierung ist allerdings nicht zu rechnen.
Im Süden der Stadt, rund um das Einkaufszentrum Herold-Center, sieht die Situation des ÖPNV heute schon gut aus. Schmieder spricht von „Premium-Mobilität“. Deshalb werden erstmals auch Wohnungen gebaut, zu denen es nur wenige Tiefgaragenstellplätze geben wird. „Mit der Annahme, dass die folgenden Generationen eine andere Mobilität leben.“
Bedeutung von Autos soll in Neubaugebieten abnehmen
In den Neubaugebieten plant die Stadt mit zentralen Stellplätzen für Autos – in der Hoffnung, dass etwa Carsharing weiter an Bedeutung zunehmen wird. Der Busverkehr in Norderstedt wurde stark verdichtet, zum Teil auch mit Kleinbussen. Außerdem fördert die Stadt den Fahrradverkehr. Nicht nur mit dem Umbau von Straßen. Es gibt ein abseits der Straßen verlaufendes und gut genutztes Fahrradwegenetz durch Parks und Grünzüge, etwa parallel zur U-Bahn-Strecke.
Die Landesregierung hatte Norderstedt zum Jahresbeginn 1970 per Gesetz aus den Gemeinden Garstedt, Glashütte, Harksheide und Friedrichsgabe geschmiedet – mit damals etwa 55.000 Einwohnern. Die Folge: Es gibt kein echtes Zentrum. Aus heutiger Sicht sei das kein großes Problem mehr, sagt Schmieder, die in Norderstedt aufgewachsen ist. „Ich habe es immer so erlebt, dass man versucht hat, aus den Dörfern eine Stadt zu machen.“
Norderstedt braucht größere Verwaltung
„Heute ist der Trend so, dass wir vier Stadtteile haben, mit Norderstedt-Mitte fünf.“ In jedem Stadtteil gebe es Infrastrukturzentren, und das wolle die Stadt weiter fördern. „Die kleineren Zentren profitieren vom Wachstum.“ Norderstedt-Mitte mit Rathaus, einem Nahversorgungszentrum und vielen Wohnungen konnte sich als fünfter Stadtteil etablieren, nicht aber als Innenstadt.
Oft wurde in Norderstedt und dem Kreis Segeberg die Frage diskutiert, ob die Stadt Kreisfreiheit wie Neumünster oder Flensburg anstreben sollte. Schmieder verweist auf ein Gutachten, wonach das eher Nach- als Vorteile hätte. Norderstedt müsste deutlich mehr Mitarbeiter in der Verwaltung beschäftigen – zum Beispiel in einer Ausländerbehörde.
Landrat sieht gute Zusammenarbeit
Der Landrat des Kreises Segeberg, Jan Peter Schröder (parteilos), ist sicher, dass sich die Norderstedter mit einem solchen Schritt keinen Gefallen tun würden. „Weil eine Vielzahl von Aufgaben und Aufwendungen dranhängen.“ Norderstedt erledige schon eine Reihe von Aufgaben selbst, die sonst beim Kreis wären. Das betreffe etwa Bau- und Jugendamt sowie die Überwachung der Geschwindigkeiten im Straßenverkehr.
Schröder ist offen, zu prüfen, ob weitere vertragliche Lösungen sinnvoll wären. Aufgabenübertragungen müssten dann einvernehmlich identifiziert und jeweils finanziell ausgeglichen werden. Aus Schmieders Sicht wäre eine Außenstelle der Ausländerbehörde in Norderstedt sinnvoll.
Entscheidend ist gute Zusammenarbeit
Obwohl der Kreis Segeberg regionale Unterschiede hat – städtisch geprägt und wirtschaftlich stark entlang der A7 mit Norderstedt, Henstedt-Ulzburg, Kaltenkirchen und Bad Bramstedt sowie um das Mittelzentrum Bad Segeberg/Wahlstedt eher ländlich und touristisch im Osten des Kreises – funktioniert die Zusammenarbeit der Kommunen nach Schröders Überzeugung gut. Das Bewusstsein, zusammenarbeiten zu müssen, habe sich überall entwickelt. Zusammenarbeit sei ohnehin ein Gebot der Stunde, sagt Schröder, etwa bei der Digitalisierung. „Die Aufgaben werden immer komplexer.“ Das müsse und könne nicht jeder allein machen.
Nach Auskunft des Innenministeriums käme eine Veränderung des Kreisgebiets nur dann in Betracht, wenn die Stadt Norderstedt und der Kreis Segeberg dies wünschten. „Entsprechende Initiativen sind uns allerdings nicht bekannt“, so ein Sprecher. Wie weit Norderstedts Wachstum noch reicht, kann heute kaum gesagt werden. Der gerade fortgeschriebene Landesentwicklungsplan bremst nicht und auch aus der Stadtvertretung kommen keine Signale, dass die Grenze bald erreicht sein könnte.
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Vielleicht kann Schleswig-Holstein irgendwann sogar mit vier statt bisher zwei Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern aufwarten. Hinter Kiel und Lübeck steht das wachsende Flensburg kurz vor dem Sprung über diese Marke.
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