Tödliche Flucht über die Ostsee: „Wie weit muss man Menschen treiben?“
Mit akribischer Detektivarbeit bewahrt ein Forscherteam tragische Geschichten von Menschen vor dem Vergessen, die auf der Flucht aus der DDR über die Ostsee gestorben sind. Die Schicksale hinterlassen auch bei den Wissenschaftlern Spuren.
Es war nicht das erste Mal, dass die beiden Brüder Lutz und Ulf Balzer aus Sachsen mit ihren Familien auf dem idyllischen Zeltplatz im Norden Rügens zu Gast waren. Sie mieteten für Anfang September 1979 ihren Stammplatz in Nonnevitz. Aber es sollte das letzte Mal sein.
Rügen: Familie will wohl nach Schweden fliehen – und stirbt
Zusammen mit ihren Frauen, eine schwanger, und Ulfs zweijähriger Tochter wollten sie vermutlich nach Schweden fliehen – mit einem aus zwei Faltbooten zusammengesetzten Katamaran. Ulf, der ältere Bruder, hatte sogar einen Außenbordmotor gebaut. Am 10. September 1979 wurden die Balzers das letzte Mal in der Nähe ihrer Zelte gesehen.
Schon am selben Abend tauchten Überreste ihres improvisierten Katamarans im Grundschleppnetz eines DDR-Trawlers auf. Den Brüdern und ihren Familien waren höchstwahrscheinlich die Ausläufer eines Sturmtiefs zum Verhängnis geworden. Keiner überlebte.
Wenn er nach Nonnevitz auf Rügen fahre, sei er automatisch bei den Balzers, berichtet Henning Hochstein. So gehe es ihm vielerorts an der Ostsee. Hochstein ist Teil eines Forscherteams der Universität Greifswald, das solche Schicksale erstmals wissenschaftlich aufgearbeitet hat. „Das verändert einen auch selbst“, sagt er.
Flucht über die Ostsee: Forscher arbeiten DDR-Geschichte auf
135 tödliche DDR-Fluchtversuche über die Ostsee hat das in der Spitze vierköpfige Team verifiziert. Bei zwölf weiteren Todesfällen liegt der konkrete Verdacht vor, dass die Menschen auf der Flucht waren. Für Gewissheit wären aber noch weitere Recherchen notwendig. Bei über 100 weiteren Fällen gibt es Indizien, die auf eine Flucht hinweisen.
Im Gegensatz zu den Toten an der Landgrenze seien Fluchttote an der Wassergrenze zuvor nicht wissenschaftlich erforscht worden, sagt Hochstein. Für die 147 verifizierten und Verdachtsfälle haben die Wissenschaftler Kurzbiografien im Internet veröffentlicht. Beim Schreiben der Texte habe er auch an Angehörige gedacht, denen die Aufklärung, aber auch die öffentliche Anerkennung möglicherweise helfe, berichtet Hochstein.
Seine Kollegin Jenny Linek sagt, sie habe beispielsweise mit der Mutter eines jungen Mannes gesprochen, der auf der Flucht über die Ostsee gestorben ist. „Das war so mein emotionaler Tiefpunkt, gleichzeitig aber auch irgendwie doch erbaulich, weil ich merkte, wie gut ihr das tat, darüber zu sprechen.“ Man könne Angehörigen anhand der vielen oft auch ähnlichen Fälle die Vorstellung nehmen, nur bei ihnen sei irgendetwas schiefgelaufen.
Ausgangspunkt der Wissenschaftler waren 655 Ertrinkungstote von 1961 bis 1989, die sie in mühsamer Kleinstarbeit gefunden und auf einen möglichen Fluchthintergrund hin untersucht haben. Sie durchforsteten Standesämter, Landes- und Bundesarchive und standen auch mit Menschen in Dänemark in Kontakt. „Ich war mehrfach in der Projektlaufzeit an einem Punkt, wo ich dachte, das ist doch total irre“, erinnert sich Linek.
Auffällig ist, dass knapp ein Fünftel der verifizierten tödlichen Fluchtversuche 1961 und 1962 stattfanden, also unmittelbar nach dem Mauerbau. Und: Es handelt sich insgesamt hauptsächlich um junge Männer.
Dänen bergen DDR-Flüchtlinge aus dem Wasser
Es gab verschiedene Fluchtmittel und -wege: schwimmend, mit Luftmatratze, Falt- oder Schlauchboot, von Rügen aus oder Richtung Lübecker Bucht in die BRD oder zu den Fährlinien. In den 1960er Jahren sei der Darß als Startpunkt sehr beliebt gewesen, sagt Linek. Auf der Hälfte nach Dänemark habe das Gedser Leuchtfeuerschiff gelegen. Die Dänen hätten wiederholt DDR-Flüchtlinge aufgenommen und dann mit einem verschlüsselten Funkspruch um Abholung gebeten. Er lautete: „Wir brauchen Wasser.“
Bei den Vorgeschichten gibt es Muster: Stasi-Anwerbeversuche; junge Menschen, die von Anfang an wussten, dass sie nicht in der DDR leben wollen; Menschen, die die Trennung zu ihrer Westfamilie nicht mehr aushielten oder irgendwie in Schwierigkeiten mit dem DDR-Regime gerieten.
Für Linek kann die Aufarbeitung der Schicksale zwischen verschiedenen DDR-Erfahrungen vermitteln. Vielleicht fänden Menschen, die nach eigener Aussage gut in der DDR gelebt haben, beim Lesen der Geschichten bis zu einem gewissen Punkt im Leben auch Gemeinsamkeiten mit dem Fluchtopfern.
Kritik: „Es gibt keinen Lehrstuhl, der sich wirklich mit DDR-Geschichte beschäftigt“
„Sehr wichtig“, nennt der MV-Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Burkhard Bley, das Projekt. Neben der möglichen Klärung der Schicksale auch für Angehörige gebe es eine gesellschaftliche Wirkung. „Wie weit muss man Menschen treiben, dass sie bereit sind, diese Risiken auf sich zu nehmen?“ Diese Frage müsse man stellen. „Es wird ja immer behauptet, die DDR wäre ja gar nicht so schlimm gewesen.“ Mit wachsenden zeitlichen Abstand werde das Bild „weichgespülter“. Man müsse aber die dunkle Seite dieses Staates mit alltäglichen Repressionen ausleuchten.
Bley wünscht sich mehr Engagement vom Bund. „Was nach wie vor auch schwierig ist, es gibt keinen Lehrstuhl, der sich wirklich mit DDR-Geschichte beschäftigt.“ Das Schweriner Wissenschaftsministerium müsse man loben, weil es dieses eigentlich durch den Bund finanzierte Projekt unterstützt habe, als es eine Verlängerung brauchte, weil während der Corona-Pandemie die Archive zeitweise geschlossen waren. Auch wenn das Forschungsprojekt nun ende, stehe er als Ansprechpartner bereit, falls sich weitere Zeitzeugen meldeten, so Bley.
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Hochstein hätte das Projekt gern weitergeführt, auch mit Blick auf geglückte DDR-Fluchten über die Ostsee. Es fehle aber das Geld. Zu Parallelen mit den Geflüchteten im Mittelmeer sagt er: „Es sind ganz andere historische Zusammenhänge.“ Aber am Ende fielen da Menschen der Geschichte zum Opfer. „Und die sind die letzten, die da irgendeine Verantwortung für tragen.“ (dpa)