• Vergangenes Jahr in Brüssel: der türkische Präsident Erdogan, EU-Ratschef Michel und EU-Kommissionschefin von der Leyen
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EU auf Kuschelkurs: Warum die „nachösterliche Pilgerfahrt nach Ankara“?

Ankara –

Grünen-Politiker Cem Özdemir sprach von einer „Brüsseler Selbstverzwergung“. Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen spottete über die „nachösterliche Pilgerfahrt nach Ankara“. Ausgerechnet, wenn die Rechte von Frauen, Opposition und Studierenden mit Füßen getreten werden (MOPO berichtete), belohnt die EU Präsident Erdogan mit einem Besuch und Verhandlungen über eine noch engere Zusammenarbeit? Ein Überblick über die komplizierte Gemengelage.

Was war passiert?EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel höchstpersönlich brachen gestern nach Ankara auf, um mit der Türkei über die Ideen zu verhandeln, die der Europäische Rat am 25. März festgehalten hatte: etwa eine Ausweitung der gemeinsamen Zollunion. Im Vorfeld wurde auch vermutet, dass es um die jüngsten Entwicklungen in Sachen Frauenrechte und Opposition gehen werde. Morgens trafen die EU-Granden zunächst UN-Organisationen wie „UN Women“.

Warum erwägt die EU trotz der Entwicklungen in der Türkei einen Ausbau der Beziehungen? Letztlich geht es darum, eine weitere Eskalation abzuwenden. Die Angst: Erdogan könnte die Zusammenarbeit in der Migrationspolitik einstellen und mehrere Millionen Gefüchtete aus Syrien zur Weiterreise in Richtung EU animieren. Zudem besteht die Sorge, das der Seegebietsstreit zwischen den EU-Ländern Griechenland und Zypern sowie der Türkei wieder eskalieren könnte.

Annäherungsversuche ohne Gegenleistung? Um den Konflikt im östlichen Mittelmeer zu entschärfen, hatte die EU die Türkei 2020 nach dem Motto „Zuckerbrot und Peitsche“ vor eine Wahl gestellt: Wenn ihr Bereitschaft zeigt, die Streitigkeiten beizulegen, können wir über eine „positive Agenda“ in Bereichen wie Wirtschaft und Handel reden – wenn nicht, gibt es neue Sanktionen. Die Türkei reagierte, indem sie sich gesprächsbereit zeigte und die Suche nach Erdgas in umstrittenen Seegebieten einstellte. Innenpolitisch machte Ankara bislang allerdings keine Zugeständnisse.

Was sagen Kritiker? Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schreibt: „Je dreister der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird, desto ruhiger wird die Europäische Union.“ Diese sollte ihren Ansatz dringend überprüfen und sichtbare Fortschritte in Sachen Menschenrechte an die Aufnahme von Gesprächen über eine Zollunion knüpfen. Auch Sevim Dagdelen wurde im Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ deutlich: Die „Pilgerfahrt“ sei das „falsche Signal“, durch das Erdogan sich in seinem antidemokratischen Verhalten nur noch bestärkt fühle.

Wo ist eine engere Zusammenarbeit denkbar?Ankara wünscht sich einen Ausbau der Zollunion mit der EU und fordert einen Wegfall der Visapflicht für Türken bei Reisen in die EU sowie mehr Unterstützung für die Versorgung von Syrien-Flüchtlingen. In allen drei Punkten zeigt sich die EU nun für Gespräche offen. Vor allem am Ausbau der Zollunion gibt es auch in der EU ein wirtschaftliches Interesse.

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Wie lief das Treffen?Konkret beschlossen wurde nichts. Erst in einigen Monaten dürfte es zu wirklichen Beschlüssen kommen. Von der Leyen und Michel sprachen mit Erdogan aber unter anderem über eine Stärkung der wirtschaftlichen Kooperation. Sie könnte nach Angaben von der Leyens eine Modernisierung der Zollunion und eine intensivere Zusammenarbeit bei Zukunftstechnologien im Bereich Umwelt und Digitales umfassen. Auch die Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Migrationspolitik wurde genannt. Zugleich betonte von der Leyen, dass die EU auch in Zukunft negative Entwicklungen anprangern werde. Der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen sei zutiefst besorgniserregend. 

Ist zu hoffen, dass die EU über den Dialog etwas bewirkt?Beobachter sind skeptisch. Die EU habe deutlich gemacht, dass für sie die innenpolitischen Zustände nicht mehr handlungsleitend seien, sondern die außenpolitischen, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS), in Berlin. „Es gibt daher für Erdogan keinen Grund, Rücksicht auf die EU zu nehmen.“ (km/dpa)

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